„Und wir stehen gerade erst am Anfang“ Arbeitsagentur-Chef Stefan Bunse über Personalmangel

Stefan Bunse: „Beschäftigungsaufbau zu mehr als 90 Prozent über Migration“
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Das Café am Münstertor muss wegen fehlendem Personal schließen. Auch Heinz-Werner Bitter, Geschäftsführer der Ev. Krankenhausgemeinschaft Herne/Castrop-Rauxel, hat anlässlich seines Ruhestandes den Fachkräftemangel als eine der Haupt-Herausforderungen für seinen Nachfolger bezeichnet. Kita-Träger klagen über fehlende Erzieher, Schulen können Stellen nicht nachbesetzen. Die Alten- und Krankenpflege hat Notstand. Das Bauhandwerk kann die Auftragslage kaum bedienen. Und der Dämmungs- und Heizungs-Umbau von womöglich Millionen von Wohnungen steht ja noch bevor.

Warum ist das so? Und was bedeutet das für Castrop-Rauxel? Wir haben bei Stefan Bunse, dem Leiter der Geschäftsstelle der Arbeitsagentur Castrop-Rauxel, nachgefragt. Es ist eines seiner Kern-Themen und für ihn eine genauso große Herausforderung wie der Klimawandel. Ein Interview.

Herr Bunse, ein gutgehendes Café muss schließen. Ein renommierter Arbeitgeber wie das EvK findet zunehmend schwieriger Personal. Was ist los auf dem Arbeitsmarkt?

Das sind zwei Beispiele, die verdeutlichen, in welcher Lage wir uns inzwischen befinden. Viele Unternehmen haben seit langem erhebliche Schwierigkeiten, qualifizierte Fachkräfte zu finden. Die Vakanzzeiten von offenen Stellen haben sich in Castrop-Rauxel in den vergangenen fünf Jahren nahezu verdoppelt. Inzwischen dauert es durchschnittlich fast sechs Monate, bis ich eine Stelle, die bei der Agentur für Arbeit gemeldet ist, mit einem neuen Mitarbeitenden besetzt habe. In einigen Branchen, wie der Pflege oder im Handwerk dauert es noch deutlich länger.

Und wir stehen gerade erst am Anfang des demografischen Wandels. Die Babyboomer gehen langsam in Rente. Die Entwicklung wird sich daher noch verstärken. In den kommenden zehn Jahren werden jährlich mehr als 400.000 Fachkräfte fehlen, die wir aufgrund der Bevölkerungsstruktur nicht aus dem Inland ersetzen können. Das wird neben dem Klimawandel die gesellschaftliche Herausforderung des kommenden Jahrzehnts. Davon ist natürlich auch Castrop-Rauxel betroffen.

Wo sollen die zusätzlichen Arbeitskräfte herkommen?

Dazu muss man wissen: Der Beschäftigungsaufbau findet in Deutschland schon jetzt zu mehr als 90 Prozent über Migration statt. Aber es geht auch um die Mobilisierung der sogenannten stillen Reserve, also von Arbeitskräften, die zwar grundsätzlich Beschäftigung wollen, aber gar nicht aktiv suchen. Und natürlich auch das noch nicht genutzte Potenzial weiterer inländischer Arbeitnehmer.

Aber das Vermittlungsgeschäft ist viel kleinteiliger, die Problemlagen sind dafür komplexer geworden. Hinzu kommt: Der Arbeitsmarkt und die Berufe sind im ständigen und immer schnelleren Wandel. Anforderungen an Arbeitskräfte steigen. Hier die Stelle, dort der Bewerber: Das funktioniert immer seltener.

Welche Rolle spielt dabei die Generation „Z“, die viel mehr auf Werte wie Work-Life-Balance und Teilzeit setzt, wo also Freizeit gegenüber der Arbeit an Stellenwert für eine gute Lebensqualität gewinnt?

Es macht keinen Sinn, darüber zu diskutieren, warum das so ist. Umgekehrt wird ein Schuh daraus: Arbeitgeber müssen sich diesen Rahmenbedingungen stellen. Die haben sich ein Stück weit verschoben. Familie oder Freunde sowie Hobbys und Beruf unter einen Hut zu bekommen, hat an Stellenwert in der Tat gewonnen. Recruiting und Kommunikation müssen auf die neuen Anforderungen angepasst werden. Sinnstiftende Arbeit steht im Fokus. Das müssen Firmen herausarbeiten und so für sich werben.

Welche Ansätze verfolgen Sie als Dienstleister für die Firmen?

Wir gehen dort hinein, bieten Arbeitgeber- und Demografieberatung an. Wie sieht meine Firmenstruktur aus? Wo habe ich Mitarbeitende im Betrieb, die ich – gegebenenfalls mit Unterstützung der Agentur für Arbeit – qualifizieren kann? Wie viele Mitarbeiter werden mich in den kommenden Jahren verlassen? Aber auch: Wo kann ich vielleicht jemanden einstellen und ihn dann im Betrieb zu einer Fachkraft weiterbilden, wenn ich keine geeignete Fachkraft auf dem Markt finde?

Grundsätzlich informieren wir Arbeitgeber darüber, dass wir einen Arbeitnehmermarkt haben, sprich: Nicht der Arbeitgeber bestimmt allein die Bedingungen, sondern der Arbeitnehmer hat eine gute Verhandlungsposition, weil die Nachfrage das Angebot übersteigt. Und wir merken, dass das Interesse der Arbeitgeber an Arbeitnehmern aus dem Ausland, auch aus den sogenannten Drittstaaten außerhalb der EU, wächst. Auch hier beraten wir.

Welchen Tipp haben Sie für Arbeitgeber?

Unternehmensattraktivität, und damit ist nicht nur die Entlohnung gemeint, spielt eine entscheidende Rolle. Zur Attraktivität gehören alle Faktoren, die Mitarbeitende an den Betrieb binden können. Wie hebe ich mich von Mitbewerbern um Arbeitskräfte ab? Die Führungsarbeit eines Betriebes besteht heute auch darin, kreative Lösungen für Mitarbeitende anbieten zu können. Unternehmen, die gute Ideen haben, finden leichter Mitarbeitende. Es geht auch um die Implementierung geeigneter Motivationssysteme zur Vermeidung von Fluktuation sowie um den Erhalt der Leistungsfähigkeit der vorhandenen Mitarbeiter.

Gibt es da eine Parallele zum geplanten neuen Fachkräfteeinwanderungsgesetz?

Durchaus. Es soll ja die Parameter für die Zuwanderung aus Drittstaaten deutlich vereinfachen und Verfahren beschleunigen. Das ist auch dringend nötig. Aber auch hier wird entscheidend sein: Was mache ich mit den Menschen, wenn sie hier sind, damit sie sich wohlfühlen und nicht wieder abwandern? Und da ist dann immer auch die ganze Stadt gefragt: Vereine, Verbände, Institutionen. Das ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Warum soll ein ausländischer Arbeitnehmer nach Castrop-Rauxel kommen und nicht nach München, Hamburg oder Berlin gehen? Und was hält ihn dann hier? Auch diese Fragen werden wir uns stellen und beantworten müssen.

Kann Castrop-Rauxel das?

Das weiß ich nicht. Es ist aber wichtig, weil wir uns in einem globalen Wettbewerb um Arbeitskräfte befinden, die eben nicht nur die Wirtschaft hier vor Ort dringend braucht.

Wird das neue Fachkräfteeinwanderungsgesetz uns denn helfen?

Wir brauchten ein neues, weil das bisherige aus meiner Sicht zu kompliziert ist. Die Regelungen sind oft zu bürokratisch und für Arbeitgeber wenig handhabbar. Mitunter kann es bis zu einem Jahr dauern, bis der Arbeitnehmer tatsächlich auf der Matte steht. Andere Menschen mit guten Kenntnissen oder Ausbildungsplatzsuchende bleiben wiederum ganz außen vor, weil ihnen Formalien fehlen. Jetzt sollen sowohl das Verfahren, als auch die Voraussetzungen deutlich erleichtert werden.

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