Halb 7 Uhr früh – für Aldo Segat ist das schon ausschlafen und den Ruhestand genießen. Kurz vor Weihnachten ging der Castrop-Rauxeler Gastronom für immer in den Feierabend. Er gab sein beliebtes – und geliebtes – Il Caffé nach 27 Jahren an die 28-jährige Pauline Wenge weiter, freut sich auf mehr Freizeit, darauf keinen Termindruck mehr zu haben, darauf in Ruhe Zeitung zu lesen und vielleicht endlich mal die Gartenhütte streichen zu können: „Ich bin jetzt alt genug, um nicht mehr arbeiten zu wollen.“
Ein kurzer Blick zurück. Im Sommer 2024 ist Aldo Segat vor allem eins: müde. Und das, obwohl „seine“ Italiener zur EM in Deutschland gastieren. Doch Aldo ist nicht nur Fußballfan, sondern vor allem langjähriger Gastronom: „Es ist im Moment zu viel“, sagt der 65-Jährige. „Ich wäre schon irgendwie gern nach Dortmund gefahren, aber ich bin auch auf einen Geburtstag eingeladen, gucke wahrscheinlich zu Hause und schlafe vor dem Fernseher ein.“ Aldo wacht morgens um vier Uhr auf, geht einkaufen und steht danach bis 15 Uhr in seinem Lokal. „Da bin ich einfach abends um 21 Uhr müde.“
Dass Aldo Segat mit seinem Il Caffé ausgerechnet in Castrop-Rauxel landete, ist Zufall. Dass der Italiener Gastronom wurde, aber keinesfalls – und dass er nach rund 50 Jahren in der Branche nun müde ist, ebenso wenig.
Ein verrückter Friauler in Deutschland
„Die Menschen aus Friaul sind verrückt. Und ich bin einer davon“, sagt der sonst eher zurückhaltende Mann ungewohnt stolz. Er wächst an der Adria auf. Venedig im Westen, Slowenien im Osten und Österreich unweit im Norden, liegt die touristische Region direkt am Mittelmeer und ist besonders bei Deutschen beliebt. Aldo hilft schon als Jugendlicher regelmäßig mit. „Da wurde jede helfende Hand gebraucht und so lag ich meinem Vater nicht auf der Tasche.“ Er stammt aus eher einfachen Verhältnissen. Im Mai 1976 erschüttert ein Erdbeben die Region. „989 Menschen sind gestorben“, sagt Aldo. Er und seine Familie kommen zwar gesund davon, doch die Sprachschule, die Aldo besucht, bleibt erstmal zu.

Den damals 17-jährigen Aldo zieht es in den Sommerferien für ein Praktikum nach Deutschland, genauer gesagt nach Lünen. Er fühlt sich wohl, würde am liebsten gleich dortbleiben. Doch seinen Eltern zuliebe kehrt er nach den Ferien nochmal in die Heimat zurück und beendet die Schule. „Zwei Tage nach dem Abi ging ich dann aber wieder nach Deutschland“, erinnert er sich. Die Sorgen seiner Eltern kann er erst viele Jahre später, als er selbst Vater ist, verstehen.
Seine Sprachkenntnisse helfen ihm dabei, im Ausland schnell Fuß zu fassen. Auch ohne Ausbildung in der Gastronomie arbeitet er später im Engadin in der Schweiz, auf einem Kreuzfahrtschiff, im Gasthaus Stromberg in Waltrop – und als die Familie Stromberg in Castrop-Rauxel das Hotel Goldschmieding eröffnet, auch hier. Besonders an diese Zeit hat er lebhafte Erinnerungen, vor allem aber nach Feierabend: „Im Mitarbeiterzimmer war immer Tag der offenen Tür.“ Oft wurde es spät und feuchtfröhlich. Nach Feierabend ging Aldo, der im Service arbeitete, mit den Kollegen und den Köchen häufig ins damals noch junge Sportforum zum Squashspielen. Und anschließend ins Miljöh zu Bubi Leuthold: „Bubi saß dann auch mal vor der Theke und ich hab mir hinten mein Bier selbst gezapft.“
Neustart in Castrop-Rauxel
Jahre später kommt Aldo erneut nach Castrop-Rauxel. Nachdem der Gastronom zehn Jahre lang ein Eiscafé in Düsseldorf betrieben hatte, braucht er einen Neuanfang. Wieder sollte es eine Eisdiele werden, dieses Mal aber eine Nummer kleiner. „Jeden Samstag habe ich Immobilien in der ganzen Region gesucht. Irgendwann fand ich ein gutes Angebot in Lünen. Auf dem Weg dorthin lag an dem Tag aber auch eine Immobilie in Castrop-Rauxel.“
Eigentlich hat Aldo Segat damals ein anderes Lokal im Blick. Doch aus der kleinen Eisdiele in der Straße Am Markt wird ein Frühstückscafé in der ruhigeren Mühlengasse. „Der Vermieter war der gleiche, hat sich für dieses kleine Lokal aber gar nicht interessiert.“ Aldo und seine Frau Immy testen zunächst das Frühstücksangebot der Konkurrenz in der Altstadt. Schnell sind sie sich sicher: „Das können wir besser.“ Sie sollten recht behalten. Alle anderen Läden von damals sind schon lange zu.

Doch damals deutet zunächst nichts auf ein langes Bestehen hin. „Über drei Wochen kam fast niemand. Es war sehr schwer, wir haben große Sorgen gehabt“, erinnert sich der 65-Jährige an den Start. Weil die Kinder des Paares noch nicht zur Schule gingen, merkten Aldo und Immy gar nicht, dass sie unglücklicherweise genau zum Start der Sommerferien eröffneten. Umso mehr freuten sie sich, als nach ein paar Wochen endlich die ersten Gäste kamen. Eine Karte, die zwei Gäste ihnen zum einjährigen Bestehen geschenkt haben, steht all die Jahre gerahmt auf dem rustikalen Holzschrank im Gastraum. Der Dank darauf geht Aldo nah. Dass sich die gleichen Gäste 26 Jahre später zu seinem Abschied erneut mit einer Karte bedanken, ebenso.
Ein besonderer Mittagstisch
Hinter einer Glasscheibe – dort, wo heute die bekannte Holztheke steht – habe es im Il Caffé damals zum Frühstück ein einzigartiges Angebot an Aufschnitten gegeben. Als ein Frühstücksgast mitbekommt, wie Immy Aldo an der Theke mit einer Portion Nudeln versorgt, ist auch sein Interesse geweckt: „Morgen möchte ich auch einen Teller und dann komme ich jeden Tag“, sagt er. Die Idee vom Mittagstisch im Il Caffé ist geboren. „Und von da entwickelte sich alles weiter. Wir boten irgendwann Salat an, dann eine Suppe.“ Heute liegt der Fokus klar auf dem beliebten Mittagstisch – und der hat seine Besonderheiten.

Eine fixe Karte gibt es nicht – und was aus ist, ist aus. Aldo entschiedet am Vortag und Immy nickt es ab. „Manchmal will ich zu viel“, sagt er. Am Tisch wird die Karte dann vorgetragen. Zu lesen hängt sie nur handgeschrieben an der weiß gefliesten Mauer in der überraschend großen Küche. Neben den Klassikern wie Spaghetti Bolognese und italienischen Sandwichs wechselt die Karte täglich. Meist gibt es eine Suppe oder einen Eintopf, einen Salat, ein Nudelgericht oder Hausmannskost.
„Wer hier hinkommt, fragt, was es gibt und sucht sich was aus den Sachen aus, die wir vorbereitet haben“, erklärte Immy Segat vor einigen Jahren. Daran hat sich bis heute nichts geändert. Außer, dass viele Kunden auch anrufen und die Gerichte zum Mitnehmen bestellen. Während der Corona-Pandemie kam nämlich das Außerhausgeschäft dazu. Während andere Restaurants massive Probleme bekamen, reichte Aldo ein Facebook-Post, und schon stand die Mühlengasse voll mit hungrigen Gästen. Die Mitarbeiter konnte – und musste – er damals schnell wieder aus der Teilzeitarbeit holen.
„Hier sind Freundschaften entstanden“
Eine weitere Besonderheit: wer an einen Tisch gesetzt wird, kann sich nicht sicher sein, hier auch alleine zu bleiben: „Diese Idee habe ich aus dem Rheinland. Heute ist sie nicht mehr wegzudenken“, sagt Aldo. Das sei natürlich auch der Größe des Lokals geschuldet. Wie Aldo entscheidet, wer zusammenpasst? Ganz nach Gefühl: „Aber wer seinen Hochzeitstag feiert, möchte vielleicht doch lieber alleine bleiben.“ Doch wer zu Aldo ins Il Caffe kommt, weiß in der Regel genau, was ihn erwartet. Ein Gastgeber, der gerne bewirtet und nette Sitznachbarn. „Hier sind schon viele Freundschaften entstanden“, sagt Aldo.

Von Erfolgsgeheimnissen mag der Gastronom nicht sprechen, er glaubt an ehrliche Arbeit, Höflichkeit und Beständigkeit. Eine Vermutung hat Aldo aber doch. Dass er nie in ein anderes, größeres Lokal – und dazu habe er unzählige Möglichkeiten gehabt – umgezogen ist, dürfte sich inzwischen als eine goldrichtige Entscheidung herausgestellt haben. Das Il Caffé wurde zu einem, wenn nicht dem, Treffpunkt in Castrop. Hier treffen sich mittags die, die in der Altstadt wohnen und arbeiten. Voll ist es fast immer.

Genau das werde Aldo im Ruhestand auch vermissen, „den Kontakt mit den Menschen“. „Nicht nur mit den Gästen, sondern auch mit Ulrike von der Müllabfuhr, mit den Verkäuferinnen bei Kaufland, die ich alle mit Vornamen kenne oder dem Teemann und dem Kartoffelmann auf dem Markt, die uns zum Abschied Karten geschrieben haben.“ Zwei Gästebücher und zwei Kisten mit Karten haben Aldo und Immy zum Abschied bekommen. Bald wollten sie in Ruhe alle Karten und Worte lesen.

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