
© Guido Kirchner
Der BVB und die Corona-Krise – der Glaube an das Gute im Fußball
Borussia Dortmund
Der Ball ruht, die Gedanken fliegen. Die Fußball-Pause fühlt sich ewig an, aber auf Dauer mehr nach Chance als nach Gefahr. Das gilt auch für Borussia Dortmund. Ein Text voller Hoffnungen.
Jetzt, da ich diese Zeilen schreibe, ist es gut drei Wochen her, dass die Deutsche Fußball Liga den 26. Spieltag in der Bundesliga abgesagt hat. Seitdem ruht der Ball, nicht nur in der Bundesliga, sondern eigentlich überall in Europa. Zumindest überall dort, wo ich sonst hingeblickt habe, wenn ich Fußball schauen wollte.
Der Körper protestiert
Es sind nur ein paar Wochen, im Vergleich zu einer Sommerpause ist das eigentlich lächerlich, aber es fühlt sich anders an, es fühlt sich schlimmer an.
Diese Pause wird noch viel länger dauern. Den ganzen April über noch. Mindestens. Vielleicht gewöhnt sich mein Körper mit der Zeit daran, im Moment aber schreit er mich an wie mein kleiner Sohn, wenn er abends vor dem Einschlafen zu lange auf sein Milchfläschchen warten muss – ziemlich beleidigt, ziemlich laut.
Ich lechze nach Fußball, auch wenn ich weiß, dass es gerade bedeutend Wichtigeres gibt. Ich lechze nach der entscheidenden Phase der Bundesliga-Saison, nach K.o.-Spielen auf internationaler Ebene, nach den Partien, die nach zahllosen Monaten voller Gruppenphasen endlich das Potenzial haben, mich zu fesseln. Gerade ist die Dortmund-gegen-Malaga-Jahreszeit – und das Coronavirus beendet sie, bevor sie überhaupt richtig angefangen hat. Vor allem aber lechze ich nach Stadionatmosphäre, von der ich nicht weiß, wann ich sie zum nächsten Mal erleben darf. Hans-Joachim Watzke hat gesagt, er sei froh, wenn es in diesem Jahr noch so käme. Das Jahr hat noch fast neun Monate.
Der wirkliche Wert des Fußballs
Wahrscheinlich ist es genau diese Ungewissheit, die mir vor Augen führt, wie magnetisch ausverkaufte Fußballstadien mich anziehen. Es ist wie so oft im Leben: Die meisten Menschen und Dinge offenbaren ihren wirklichen Wert eben erst dann, wenn sie nicht mehr da sind.
Trotzdem überrascht mich die Wucht, wie sehr mir der Fußball nach so kurzer Zeit schon fehlt, denn eigentlich war ich der Sache längst überdrüssig. Der Fußball, der Mitte März so jäh unterbrochen wurde, war eigentlich von allem zu viel. Er war, das war die bitterste Erkenntnis, beliebig geworden. Die Nations League interessiert mich noch weniger als das restliche TV-Programm auf RTL, die Gruppenphase der Europa League bis auf die Choreografien der Frankfurter Fans auch nicht, eine angedachte Super League zeigt nur, dass zu viele wichtige Menschen im Fußball den Verstand verloren haben, Halbzeit-Shows mit Helene Fischer sind ungefähr so unnötig wie illegale Autorennen auf dem Dortmunder Wall, bunte Fußballschuhe aus Plastik für über 200 Euro gehören in den Eimer, bei der Europameisterschaft im Sommer hätte ich die meisten Spiele vermutlich gar nicht geschaut, bis es dann irgendwann ernst geworden wäre.
Fußball ist nicht systemrelevant
Obwohl klar ist, dass die Corona-Krise an den meisten Problemen des Profifußballs wohl nichts ändern wird, schon gar nicht nachhaltig, fühlt es sich in diesem Moment gerade anders an. Bitte nicht falsch verstehen: Ich erachte den Fußball nicht - erst recht nicht den Profifußball - als systemrelevant, wie es der eine oder andere Fußballfunktionär gerade darstellen möchte, um möglichst zeitnahe Geisterspiele zu rechtfertigen. Der Fußball bleibt immer nur das „Wichtigste des Unwichtigen“, wie Jürgen Klopp es mal so treffend beschrieben hat.
Die Lust darauf ist trotzdem riesig: Serviert mir Hoffenheim gegen Wolfsburg, ich pfeife es mir genüsslicher rein als Mitternachtssnacks auf Hochzeiten. Es ist ein bisschen wie früher, als ich mir als Jugendlicher vor großen Turnieren immer fest vorgenommen habe, jedes Spiel live und in Gänze zu gucken. Bei der WM `98 in Frankreich zum Beispiel: zweiter Gruppenspieltag in Montpellier, Kolumbien gegen Tunesien mit Carlos Valderrama, dem Mann mit der schönsten Frisur und dem schönsten Oberlippenbart seit Walter Frosch – ein wunderbares 1:0 der schlechteren Sorte.
Sicherlich, ich bin auf Entzug. Niemand kann mir sagen, wie lange er noch anhalten wird, wie lange ich mich noch im Verzicht üben muss. Kein zerstückelter Spielplan, kein Rahmenterminkalender der Fifa weiß es. Es macht keinen Spaß, vielleicht ist dieser Text in den Augen vieler auch großer Mist, aber das Schöne ist, dass in mir die Erkenntnis reift, dass ich genau diesen Entzug dringend gebraucht habe. Und irgendwie fühlt sich diese Pause, die leider wohl viele Vereine und womöglich auch den Sport-Journalismus hart treffen wird, deswegen trotz all der negativen Nebenwirkungen mehr nach Chance als nach Gefahr an. Zumindest auf Dauer.
Fußball wird zum Fastenbrechen
Noch ist völlig ungewiss, wann ich das nächste Mal bei einem ausverkauften Spiel meinem Job nachgehen darf, wann ich das nächste Mal privat ein Stadion besuchen darf, aber die Vorfreude darauf ist größer als der Pazifik. Ein bisschen so wie damals, als man in der Kindheit die Fastenzeit noch ernst genommen hat – und an Ostern dann so viele Süßigkeiten in sich reingeschaufelt hat, als gäbe es nie wieder welche im Leben. Es wurde gehamstert, aber es war viel cooler als heute.
Irgendwann, wenn das Coronavirus überstanden ist, wird es soweit sein. Und ich freue mich auf alles, was kommt. Ich freue mich auf die Ordnerin, die immer so nett grüßt, wenn sie am Einlass meinen Rucksack kontrolliert. Ich freue mich auf den Blick auf die Südtribüne, wenn ich in der Südost-Ecke zum Presseraum hochstapfe. Ich freue mich auf die erste Stadionwurst, auf die Mannschaftsaufstellung, auf das erste You’ll Never Walk Alone, auf den ersten Torschrei der Gelben Wand. Ich freue mich auf Norbert, der mit seiner Familie in der Reihe vor uns im Zuschauerbereich sitzt und bei dem ich manchmal Sorge habe, dass ihn Stadionbesuche an die Grenzen des Gesunden treiben. Ich freue mich auf langweiliges Halbzeit-Programm. Ich freue mich auf dichtes Gedränge im Interviewbereich für oft wenig aussagekräftige O-Töne von Fußballern. Ich freue mich sogar auf Pressekonferenzen mit Lucien Favre, wenn es sie denn dann noch gibt.
Vielleicht wird die Verbindung zwischen Mannschaft und Fans enger
Die große Hoffnung ist, dass es vielleicht vielen so geht, auch den Spielern, dass die Verbindung zwischen Mannschaft und Fans wieder eine engere wird. Leon Goretzka und Joshua Kimmich verdeutlichen in diesen Tagen eindrucksvoll, welche Möglichkeiten Fußballer haben, um zu helfen, um etwas zurückzugeben, um Identifikation zu schaffen. Viele folgen ihnen schon, Mats Hummels und Julian Brandt gehen beim BVB mit gutem Beispiel voran, Marco Reus und Marcel Schmelzer haben ebenfalls begriffen, worum es geht. Vielleicht werden es ja noch mehr, es dürfen gerne noch mehr werden.
Und da ist auch die Hoffnung, dass die Fans für alle Entscheidungsträger wieder an Bedeutung gewinnen, dass sie in den Chefetagen der Klubs und Verbände wieder ernster genommen werden, weil die Corona-Pause auch den Gianni Infantinos, Aleksander Ceferins und Fanklubs powered bei Coca Cola-Gründern dieser Welt vor Augen führt, wie wertlos Fußball in leeren Stadien ist. Nicht, weil die Fans dann ihre schon bezahlten Tickets zurückgeben und womöglich auch noch Geld dafür zurückverlangen dürfen, sondern weil sie das „Premiumprodukt Fußball“ erst premium werden lassen.
Ein schönes Schlusswort von Fredi Bobic
Fredi Bobic hat vor ein paar Tagen im Interview mit der „Welt“ gesagt: „Ich glaube, wir alle können uns noch gar nicht vorstellen, wie emotional wir alle sein werden, wenn wir irgendwann das erste Mal wieder in einem voll besetzten Stadion sind. Das wird in jedem Stadion eines der größten Erlebnisse der Fußball-Geschichte.“
Das ist ein schönes Schlusswort. Und ich glaube, dass es stimmt. Vielleicht ist die Corona-Pause ja wirklich mehr Chance als Gefahr für den Fußball.
Tobias Jöhren, Jahrgang 1986, hat an der Deutschen Sporthochschule in Köln studiert. Seit 2013 ist er Mitglied der Sportredaktion von Lensing Media – und findet trotz seines Berufes, dass Fußball nur die schönste Nebensache der Welt ist.
