Otto Addo (47) schaufelt Zeit frei für das Interview, ehe er in Richtung Katar abfliegt. Er steht als Nationaltrainer Ghanas vor einer spannenden WM-Mission. Als Pendler zwischen den Welten vermittelt er eine klare Botschaft:
Herr Addo, wer spielt bei Uruguay hinten rechts?
Uruguay als dritten Gruppengegner bei der WM haben wir im Team natürlich analysiert. Da müssen wir nur noch Details anpassen mit den letzten Eindrücken vom Turnier selbst. Weshalb fragen Sie?
Wie schwierig war es für Sie, neben Ihrem Job als Toptalente-Trainer bei Borussia Dortmund noch eine Fußball-WM vorzubereiten?
Ich habe ein gutes Team, dem ich vertraue. Wir haben in der Vorbereitung viel mit Zoom-Meetings gearbeitet. Für mich bedeutete das, tagsüber für den BVB zu arbeiten, dann etwas Zeit mit der Familie zu verbringen. Und wenn zuhause Ruhe eingekehrt ist, kamen die Videokonferenzen, die dauerten manchmal von abends 22 Uhr bis 2 Uhr morgens, und das zwei- oder dreimal die Woche. Das waren absolut intensive Monate durch diese Mehrfach-Belastung.
Eher WM-Fieber oder eher Kopfschmerzen?
Bis zur vergangenen Woche waren es eher Kopfschmerzen, wegen der schweren Entscheidungen bei der Kadernominierung. Das ist eine große Aufgabe zu entscheiden, wer bei so einem großen Turnier dabei sein darf. Es gab fünf, sechs Positionen, die auf der Kippe standen.
Apropos Team: Beim DFB gibt es, überspitzt formuliert, einen Therapeuten, der Spielern die Fußnägel schneidet. Wie sind die Bedingungen im ghanaischen Verband?
Gut, wir sind zufrieden. Als kleinerer Verband haben wir nicht die finanziellen Möglichkeiten wie Deutschland und andere große Nationen. Aber der Verband hat viel auf die Beine gestellt, wir haben personell auch externe Hilfe hinzugeholt. Zum Staff gehören vier Videoanalysten, vier Physiotherapeuten, ein Teammanager, zwei Ärzte, mein Trainerstab. Und in Francis Bugri habe ich einen persönlichen Assistenten, der mir viele Aufgaben abnimmt. Das ist kein kleiner Stab, auch wenn der bei anderen noch größer ausfällt.
In Deutschland herrscht noch keine echte WM-Stimmung. Wie sieht das in Ghana aus?
In Ghana gibt es auch 30 Millionen Bundestrainer (lacht). Die Leute freuen sich schon auf die WM, das höre und spüre ich. Da lag und liegt eher eine WM-Begeisterung in der Luft als in Deutschland.
Weil die WM-Teilnahme keine Gewohnheit ist?
Für eine große Fußballnation wie Deutschland ist die Teilnahme natürlich wichtig, aber auch ein Stück weit selbstverständlich. Für uns in Ghana ist dieses Turnier gefühlt mehr als „nur“ eine Weltmeisterschaft. Dieses kleine Land taucht nicht oft auf im Fokus der Weltöffentlichkeit.
Wie stark dürfen wir den Kader der „Black Stars“ einschätzen? Bekanntester Spieler ist sicherlich Thomas Partey vom FC Arsenal …
Die Qualität ist vor dem Turnier schwierig zu bemessen. Wir haben richtig gute Spieler dabei, und wir können als Mannschaft ganz sicher für eine Überraschung sorgen, wenn alles passt. Wir können aber auch gegen jeden Gegner verlieren.
Im September gab es ein 0:3 gegen Brasilien und ein 1:4 gegen Japan: Nebensächliche Testspiel-Ergebnisse oder der wahre Leistungsstand?
Das sind nur Testspiel-Ergebnisse. Da haben wir viel probiert, ein Schlüsselspieler wie Thomas Partey fehlte, den können wir nicht ersetzen. Über diese Tiefe im Kader verfügen wir nicht.
In welcher Verfassung erwarten Sie die Spieler nach der intensiven Saisonphase?
Wir müssen aufpassen! Mit den Vereinen standen und stehen wir in Kontakt, wir haben Daten ausgetauscht um zu sehen, in welchem Zustand die Spieler ankommen. Wir haben Glück, unser Auftaktmatch steigt erst am 24. November. Vorher haben wir noch ein Testspiel gegen die Schweiz (2:0). Klar ist: Pflege und Regeneration werden in der Vorbereitung weit oben auf der Prioritätenliste stehen. Die Saison war bisher sehr anstrengend, und die WM wird sehr herausfordernd.

In der Vorrunde treffen Sie auf Portugal, Südkorea und Uruguay. Wie gut stehen die Chancen aufs Achtelfinale?
Letztlich ist bisher noch keine Weltmeisterschaft so gelaufen, wie es die Experten prognostiziert haben. Es kommt doch meistens anders als man denkt. Portugal schätze ich als Favoriten in der Gruppe ein, Uruguay erwarte ich auch sehr stark. Wenn wir gut starten, vielleicht sogar mit einem Unentschieden gegen Portugal, wäre das richtungsweisend.
In Ghana war die Stimmung mit Bezug auf die Nationalmannschaft nach dem Vorrunden-Aus beim Afrika-Cup Anfang des Jahres im Keller. Hat sich das gedreht durch die etwas überraschende WM-Qualifikation in den Playoffs gegen Nigeria? Scheint jetzt wieder alles möglich?
Die veränderte Stimmung nehme ich auch so wahr. Die Leute fangen schnell an zu träumen. 2010 stand Ghana im Viertelfinale, als niemand damit gerechnet hat, und ist erst im Elfmeterschießen an Uruguay gescheitert. 2014 haben wir dem späteren Weltmeister Deutschland einen Punkt abgetrotzt. Es kann schnell gehen. Entscheidend ist es, die Vorrunde zu überstehen. Danach kommt es auf die Gegner an.
Ich habe noch das Video von Präsident Akufo-Addo vor Augen, der sie nach der Qualifikation für die WM fast zum Nationalhelden ausgerufen hätte und gar nicht mehr ausreisen lassen wollte. Die Begeisterungsfähigkeit in Ghana ist grenzenlos, oder?
Es gib viel Potenzial zur Euphorie. Klar ist Fußball auch in Deutschland die Sportart Nummer eins. Aber für die Ghanaer ist diese WM auch ein Mehrwert, weil das Land politisch und ökonomisch international kein großer Player ist. Afrika ist ja generell unterrepräsentiert als Kontinent, und von daher ist die Teilnahme bei der WM mehr als ein Sportereignis. Bei allen Problemen, die im Land herrschen, bringt jeder Sieg mehr Ruhe und Stabilität. Die Bedeutung ist vergleichsweise hoch. Nach der WM-Qualifikation bin ich vom Präsidenten in den Regierungssitz eingeladen worden.
Eine große Verantwortung? So viel Erfahrung als Cheftrainer haben Sie bislang nicht gesammelt.
Die Verantwortung ist groß, das stimmt. Aber bei allen Hoffnungen, die formuliert werden, ist die Ausgangslage relativ entspannt, wenn man darauf schaut, wo wir herkommen. 2018 war Ghana nicht für die WM qualifiziert, 2022 beim Afrika-Cup sind wir als Gruppenletzter in der Vorrunde ausgeschieden. (lacht) Von daher hätte ich auch gute Ausreden gehabt, wenn es mit der Weltmeisterschaft nicht geklappt hätte.
Wie verhält es sich mit Vorfreude und Anspannung als Trainer?
Für mich ist das auch eine neue Erfahrung. Ich durfte ja 2006 als Spieler dabei sein, nun als Trainer. Ich freue mich.
Geht der Puls nicht steil hoch?
Ich kann mich ganz gut regulieren. Ehrlich gesagt, finde ich so ein Turnier als Spieler schwieriger.

Warum?
Als Spieler musst du performen. Du stehst auf dem Platz und musst Leistung bringen. Als Trainer muss ich die Trainingseinheiten vorbereiten, meine Spieler und den Gegner einschätzen, die Partien analysieren. Im Vergleich finde ich das entspannter zur Rolle als Spieler auf dem Platz.
Das dürften nicht alle Trainer so sehen.
International stehe ich mit Ghana auch nicht so unter Druck wie andere. Wenn wir unser Auftaktspiel gegen Portugal verlieren, sagt jeder, das hätte er so erwartet. Wenn Deutschland gegen Japan verliert, nähme die Diskussion andere Ausmaße an.
Wie weit muss Ghana kommen, damit sich die Mannschaft unsterblich macht?
Unsterblich? Da müssten wir ins Halbfinale kommen. Das ist noch keiner afrikanischen Mannschaft gelungen. Unser Fokus liegt auf dem ersten Match gegen Portugal. Da spielen übrigens entweder Diogo Dalot oder Joao Cancelo rechter Verteidiger. Und danach geht es Schlag auf Schlag.
In Deutschland ist ein beherrschendes Thema die Kritik an Ausrichter Kater wegen der nicht eingehaltenen Menschenrechte, wegen der Bedingungen auf den WM-Baustellen, wegen der ökologischen Sünden. Ist das in Ghana auch Thema?
Das ist in Ghana null Thema. Ich lebe ja in beiden Welten, wenn man das so formulieren kann, und ich erlaube mir zu sagen, dass diese Kritik eine eurozentrische Sicht offenbart.
In Afrika ist der Blick ein anderer?
Grundsätzlich: Ich finde es sehr gut und richtig, dass diese Kritikpunkte angesprochen werden. Das muss sein, und da muss der Fußball die öffentliche Wahrnehmung für diese Themen schärfen. Aber die Afrikaner haben in den meisten Fällen genug mit ihrem Alltag und dem Überleben zu tun. Und ich erkenne da eine gewissen Doppelmoral, wenn ich das aus der afrikanischen Perspektive betrachte.

Inwiefern?
Wir Europäer sind beim Verbrauch unserer endlichen Ressourcen ganz weit vorne dabei. Und die kommen zum Teil auch aus der arabischen Region. In Afrika sterben täglich 25.000 Menschen an Hunger, hier leben wir im Überfluss und werfen tonnenweise Essen weg. Europäische Firmen kaufen Brunnen in Afrika und verkaufen dann den Einheimischen das Trinkwasser. Europäische Schiffe fischen vor Afrikas Küsten das Meer leer, und die einheimischen Fischer sind in ihrer Existenz bedroht. Manchmal liest man in Deutschland von diesen Missständen, dann ist das Thema schnell wieder aus den Medien verschwunden. Als Europäer tue ich mich daher schwer, nur mit dem Finger auf andere zu zeigen. Wir müssen fairerweise alle Missstände benennen und auch uns selbst mehr hinterfragen.
Ihnen fehlt die Selbstkritik bei den Kritikern?
Vielleicht entspricht der Gedanke, dass wir hier in Deutschland moralisch immer alles richtig machen, nicht ganz der Wahrheit, wenn man aus internationaler Sicht darauf schaut. Nochmal: Ich begrüße es, dass die berechtigte Kritik an Katar thematisiert wird. Aber es gibt noch mehr Probleme auf der Welt, und vielleicht sind wir Deutschen als Chefkritiker nicht immer in der geeigneten Position. Bei den Vorwürfen in Sachen Korruption bei der WM-Vergabe muss ja auch der Hinweis erlaubt sein: Wie Deutschland das Turnier 2006 zugesprochen bekommen hat, ist bis heute nicht geklärt. Und ich bin skeptisch, ob sich das in Zukunft noch ändern wird.
Wie sieht Ihre Zukunft nach der WM aus? Arbeiten Sie dann wieder ausschließlich als Toptalente-Trainer beim BVB?
Genau das ist der Plan. Ich mache meine Arbeit hier in Dortmund beim BVB sehr gerne. Ich werde auf jeden Fall zurücktreten als Nationaltrainer in Ghana, und dann geht es normal weiter. So ist es auch mit meiner Familie besprochen, die wegen meiner „Doppelbelastung“ viel zurückstecken musste.
Es sei denn, Sie kommen mit Ghana ins Halbfinale. Dann könnten Sie sich gleich zum Staatspräsidenten wählen lassen!
Politik ist sicher ein spannendes Feld. Aber ich bin und bleibe Fußballtrainer.
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