Ein Bild aus Herat: Schwerbewaffnete Taliban haben die west-afghanische Stadt schon vor rund zwei Wochen erobert. Inzwischen haben sie das ganze Land unter Kontrolle. Afghanische Flüchtlinge in Ahaus fürchten um ihre Verwandten in der Stadt.

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„Taliban waren nie weg“ – Flüchtlinge in Ahaus fürchten um Verwandte

rnAfghanistan-Konflikt

Blitzartig haben die Taliban Afghanistan zurück erobert. Vor ihnen ist Familie Esmaily schon 2015 nach Ahaus geflohen. Den Versprechungen der neuen, alten Machthaber glauben sie nicht eine Sekunde.

Ahaus

, 18.08.2021, 17:15 Uhr / Lesedauer: 3 min

Die Bilder aus Afghanistan verstören: Nach 20 Jahren internationalem Militäreinsatz haben die Taliban binnen weniger Tage das komplette Land förmlich überrannt und zurückerobert. Für Familie Esmaily sind die Bilder in den Nachrichten gleich doppelt belastend: Sie bringen alte Erinnerungen wieder hoch und lösen schlimme Sorgen aus.

Sorgen um ihre Verwandten in ihrer west-afghanischen Heimatstadt Herat. 2015 floh die Familie von dort – kam schließlich nach Ahaus: Shima Esmaily (36), ihr Ehemann Sharafadin (46) und der heute elfjährige Sohei.

„Taliban waren nie weg. Sie waren immer aktiv“

Der Grund für ihre Flucht vor sechs Jahren: die Taliban. „Die waren ja nie weg“, sagt Shima Esmaily. In ihrer direkten Nachbarschaft hätten damals Taliban gelebt. Auch wenn die USA ja schon 2003 verkündet hätten, die Taliban seien besiegt, sie seien nie verschwunden. „Die waren weiter aktiv, nur eben nicht mehr so offensichtlich. In den Nachrichten hat man davon natürlich nie etwas gehört“, erklärt die 36-Jährige.

Vater Sharafadin Esmaily (45) und der elfjährige Sohei in ihrer Ahauser Wohnung. Die Mutter Shima Esmaily (36) wollte sich nicht fotografieren lassen. Aus Angst um ihre Verwandten, die aktuell noch in Herat leben.

Vater Sharafadin Esmaily (45) und der elfjährige Sohei in ihrer Ahauser Wohnung. Die Mutter Shima Esmaily (36) wollte sich nicht fotografieren lassen. Aus Angst um ihre Verwandten, die aktuell noch in Herat leben. © Stephan Rape

Schließlich bekam ihr Mann Probleme mit ihnen: Weil er sich von seiner Frau trennte und ein zweites Mal heiratete. Weil er sich den Vorgaben der Taliban nicht beugen wollte. Die Familie floh, zu Fuß. Quer durch den Iran, die Türkei und Griechenland.

Verwandte blieben zurück – und sind auf der Flucht

Etliche Verwandte blieben zurück. Über Jahre war das kein großes Problem. Doch jetzt, mit dem blitzartigen Vormarsch der Taliban, macht sich das Paar große Sorgen: Die beiden Kinder aus Sharafadin Esmailys erster Ehe sind inzwischen in den Iran geflohen. „Sie fürchten aber, dass sie ausgewiesen werden“, erklärt der 45-Jährige, der in Ahaus als Gärtner arbeitet.

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Zwei Schwestern und die Mutter von Shima Esmaily leben noch bei ihrem Bruder in Herat. Vor allem um die Frauen macht sie sich riesige Sorgen. „Wir wissen ja einfach nicht, wie es weiter geht“, sagt sie.

Besonders dramatisch ist für sie die Geschwindigkeit, mit der der Vormarsch in den vergangenen Wochen passierte: 300.000 Mann der afghanischen Armee hätten ja praktisch keinen Widerstand geleistet. „Dabei hatte man zu Armee und Polizei eigentlich Vertrauen“, sagt Sharafadin Esmaily im Rückblick. „Wir waren geschockt“, ergänzt seine Frau. Schließlich hätten die Taliban ja schon fast bequem zu Fuß von Stadt zu Stadt ziehen können. Ohne jede Gegenwehr.

Die Zukunft ist ungewiss: Zwar hätten die Taliban nach der Machtübernahme versprochen, weniger radikal als in der Vergangenheit zu sein. Und bisher hielten sie sich offenbar auch daran.

Paar mag Versprechungen der Taliban nicht glauben

Doch das Paar mag diesen Versprechungen nicht glauben. „Herat wurde vor zwei Wochen von den Taliban eingenommen“, sagt sie. Seitdem habe sich ihre Familie kaum auf die Straße getraut. Ihr Bruder sei nicht zur Arbeit gegangen, die Frauen würden sich im Haus verstecken. „Am liebsten würde ich meiner Familie sofort zur Flucht verhelfen, aber ich weiß nicht, wie ich das bezahlen soll“, erklärt Shima Esmaily und ist den Tränen nahe.

Abgesehen davon sei ja im Moment auch überhaupt nicht klar, ob und wie man aus Afghanistan herauskomme. Die Grenzen seien geschlossen und die Bilder vom Flughafen Kabul, bei dem Menschen sogar versucht haben, sich außen an startenden Flugzeugen festzuhalten, gingen um die Welt.

Familie hofft auf friedliche Zukunft – Politik sei fast egal

Familie Esmaily hofft darauf, dass andere Länder – auch Deutschland – den Afghanen helfen. Wie auch immer. Die Bilder in den Nachrichten von triumphierenden Taliban, die Szenen am Flughafen Kabul oder von den Menschen, die zu Fuß auf der Flucht sind, können sie nur schwer ertragen. „Wir leiden und weinen und können nichts tun außer abzuwarten“, sagt sie.

„Wir wollen nur Frieden. Und dass unsere Familien in Ruhe dort leben können“, erklärt sie. Das politische System sei ihr da fast egal. Ob durch eine fremde Armee besetzt oder von einer afghanischen Regierung regiert, sei ihr egal. Hauptsache Frieden.

Aktuell leben 46 Menschen aus Afghanistan in Ahaus und den Ortsteilen. „Sie alle erzählen ähnliche Geschichten“, weiß Carmen Esposito-Stumberger von der Caritas. Sie koordiniert seit 2015 die Arbeit der ehrenamtlichen Integrationslotsen in der Stadt. Gerade erst Ende Juli sei eine Familie nach Ahaus gekommen, deren Vater für die Bundeswehr in Afghanistan gearbeitet habe.

Ortskräfte der Bundeswehr kamen in letzter Minuten nach Deutschland

„Die haben Glück gehabt“, sagt sie: Per Flugzeug kamen sie nach Deutschland. Ohne jedes Gepäck. Die Frau sei hochschwanger gewesen. Aus Angst vor der Verfolgung durch die Taliban hätten sie sich auf den Weg gemacht. Auch hier in Deutschland seien sie noch extrem vorsichtig und würden kaum auf die Straße gehen. Aus Angst, auch hier noch verfolgt zu werden.

Aber auch diejenigen, die schon länger in Ahaus leben, „alle sind extrem besorgt um ihre Verwandten“, erklärt sie. Und alle hätten vor allem Probleme, mit ihnen den Kontakt zu halten.

Internet und Kommunikationsnetze würden ständig ausfallen. Gleichzeitig würden die Menschen in Afghanistan im Moment ihren Aufenthaltsort nicht am Telefon nennen. „Sie haben Angst, dass Gespräche zurückverfolgt werden“, erklärt Carmen Esposito-Stumberger. Entsprechend schwierig sei es, überhaupt an Informationen zu kommen.