Deutschlandweit sind 17.000 Stellen für Pflegekräfte nicht besetzt. Warum eigentlich? Und welche Folgen hat diese Situation? Der Werner NRW-Pflegeratsvorsitzende Ludger Risse erklärt die Hintergründe im Interview. © dpa

Pflegenotstand in NRW – eine Expertenmeinung

Lässt sich die Pflege noch retten?

Die Situation in der ambulanten und stationären Pflege ist alles andere als berauschend: überforderte Fachkräfte und frustrierte Angehörige, die keinen Platz für ihre pflegebedürftigen Verwandten finden. NRW-Pflegeratsvorstand Ludger Risse aus Werne sagt, der Pflegenotstand werde sich weiter verschärfen. Aber es gibt Hoffnung – etwa durch Roboter und selbstfahrende Betten.

Werne

, 12.04.2018 / Lesedauer: 7 min

Kaum zwei Wochen nach seinem Amtsantritt stand Bundesgesundheitsminister Jens Spahn bereits gehörig in der Kritik. Nach seinen umstrittenen Aussagen – etwa zu Wartezeiten bei Ärzten und einer Zweiklassenmedizin – sorgte der Brief einer Krankenschwester an den Minister für Aufsehen. Von einem „menschenunwürdigen System“ ist darin die Rede. Und Spahn, so der Vorwurf, könne sich anscheinend nicht vorstellen, „was es bedeutet, qualifizierte pflegerische Leistungen zu erbringen, vor allem nicht zu den derzeitigen Bedingungen“. Aber sind die Umstände wirklich so katastrophal? Und falls ja: Wie ließe sich das ändern? Darüber hat RN-Redakteur Felix Püschner mit dem NRW-Pflegeratsvorsitzenden Ludger Risse gesprochen.

Ludger Risse ist Vorsitzender des Pflegerats NRW und stellvertretender Vorsitzender des Bundesverbands Pflegemanagement. Er sagt, die Zukunft der Pflege sei nicht rosig, Resignation komme aber nicht infrage. Hoffnung macht ihm die mögliche Konstitution einer NRW-Pflegekammer. © Felix Püschner

Der Begriff „Pflegenotstand“ ist aktuell wieder in aller Munde. Worin äußert sich dieser Notstand überhaupt?

Fakt ist zunächst einmal, dass Pflegepersonal an allen Ecken und Enden fehlt – sowohl im Bereich der ambulanten als auch der stationären Pflege. In Krankenhäusern führt das unter anderem dazu, dass Stationen geschlossen werden müssen oder OP-Bereiche und vorhandene Intensivbetten nicht genutzt werden können. Es gibt zudem Studien, die belegen, dass aus dem Personalmangel eine zwanghafte Rationierung der Pflegeleistungen folgt. Das heißt, Patienten werden nicht in dem Maße gepflegt, wie sie es eigentlich benötigen. Und einige Patienten werden deswegen leider sogar kränker entlassen, als es möglich wäre – wenn es denn genügend Personal gäbe.

Welche Rolle spielt das Budget von Einrichtungen beim Personalmangel?

Natürlich gibt es einen Stellenmangel aus finanziellen Gründen. Als man das Krankenhaus-Vergütungssystem vor etwa 15 Jahren neu aufgestellt hat, hat das zu einem deutschlandweiten Abbau von 50.000 Stellen geführt. In dem System ist die ärztliche Leistung als Erlösfaktor dargestellt, die Pflegeleistung hingegen als Kostenfaktor – und das, obwohl hinter jeder ärztlichen Leistung eine Pflegeleistung steckt. Irgendjemand muss die Patienten schließlich erst einmal auf den OP-Tisch bringen. Allerdings muss man zugeben, dass es heute auch viele freie Stellen gibt, die einfach nicht besetzt werden können. Das Problem haben viele Krankenhäuser in unserer Region. Und das liegt nicht am Budget.

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Sind Pflegeberufe also zu unattraktiv?

Nein, überhaupt nicht. Wenn die Bedingungen stimmen, ist der Beruf sogar hoch attraktiv. Und das sagen viele Pflegekräfte auch so. Die Entwicklungsmöglichkeiten sind vielfältig. Sie reichen vom Pflegeassistenten bis zum promovierten Pflegewissenschaftler oder Pflegemanager. Dazwischen gibt es viele Stufen und Zusatzqualifikationen. Problematisch wird es allerdings, wenn die Führung keine gute Arbeit leistet und die Bezahlung, zum Beispiel durch einen Haustarif privater Anbieter, schlecht ist. Wenn Leute überlastet sind, dann ist das aber in der Regel das Resultat eines Personalmangels. Und da stehen wir vor einem ganz bestimmten grundsätzlichen Problem.

Und welches ist das?

Wir haben einen erheblichen Mangel an Nachwuchskräften. Den haben andere Berufe zwar auch, aber im Bereich der Pflege verschärft sich das Problem. Zusätzlich zum Fachkräftemangel gibt es hier nämlich eine steigende Nachfrage aufgrund der demografischen Lage. Es gibt immer mehr ältere Menschen und gleichzeitig immer weniger potenzielle Pflegekräfte.

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Sie sind auch als Krankenhaus-Pflegedirektor in Werne und in Lünen tätig. Wie ist die Situation hier?

Wir sind zugegebenermaßen in einer privilegierten Situation. Natürlich werden auch hier die Menschen älter, aber die Personallage ist deutlich besser als in anderen Städten. Am St.-Christophorus-Krankenhaus haben wir im Pflegedienst 148 Stellen für die Stationen und 50 weitere Vollzeitstellen im Funktionsdienst – also etwa im OP-Bereich, der Ambulanz und der Anästhesie. Und alle Stellen sind besetzt. Das gilt ebenso für das St.-Marien-Hospital in Lünen mit 348 Stellen im stationären Bereich und 150 im Funktionsdienst. Die Zahl der Bewerbungen ist jedes Jahr höher als die Zahl der zu besetzenden Stellen.

Hört sich nach heiler Welt an…

Im Hinblick auf die Personalsituation geht es uns tatsächlich besser als anderen Häusern. Aber bei uns ist natürlich auch nicht immer alles schön. Auch hier wird es schon mal stressig, wenn mehrere Mitarbeiter krankheitsbedingt fehlen und dann noch überdurchschnittlich viele neue Patienten kommen. Das ist dann aber völlig normal.

Was machen Sie denn anders als andere Standorte?

Dass die Situation bei uns gut ist, ist eine gemeinschaftliche Leistung von allen, die hier arbeiten. Wir haben immer wieder neue junge Bewerber, weil wir uns früh um den Nachwuchs kümmern und versuchen, schon Schüler für das Berufsfeld zu interessieren. Zum Beispiel, indem wir sie an Berufsinformationstagen zu uns einladen. Pro Jahr nehmen wir allein in Werne etwa 100 Praktikanten auf. Und von denen bewerben sich anschließend auch einige.

Der neue Bundesgesundheitsminister Jens Spahn will dem Pflegenotstand unter anderem durch eine veränderte Pflegeausbildung entgegenwirken. Aber ist das überhaupt sinnvoll? © dpa

Der neue Gesundheitsminister, Jens Spahn, will die Pflegeberufe aufwerten. Wie ist Ihr Eindruck von seinem Start in die Amtszeit?

Die ein oder andere Äußerung war sicherlich nicht ganz geschickt. Jens Spahn ist aber grundsätzlich jemand, der das Gesundheitswesen recht gut kennt. Und der Posten des Gesundheitsministers ist bestimmt nicht der beliebteste Ministerposten – wenngleich er ungeheuer wichtig ist. Ulla Schmidt hat einmal gesagt, das sei in etwa so wie der berühmte Sprung ins Haifischbecken. Wenn man sich dann als Minister auch noch mit dem Thema Pflege beschäftigt, ist das sicherlich keine leichte Aufgabe.

Der Minister hat die Verordnung zur neuen Pflegeausbildung auf den Weg gebracht, die auf eine einheitliche Ausbildung von Alten-, Kranken- und Kinderkrankenpflege setzt. Eine gute Idee?

Nein, nicht in dieser Form. Ich hätte es gut gefunden, wenn man das Modell so eingeführt hätte, wie es ursprünglich angedacht war: Die Schüler sollten drei Jahre lang eine gemeinsame Ausbildung machen, allerdings schon von Anfang an über den praktischen Ausbildungsteil ihren Schwerpunkt festlegen – also Alten-, Kranken- oder Kinderkrankenpflege. Die jetzige Lösung ist ein Kompromiss mit vielen Fragezeichen. Zwar gibt es auch eine gemeinsame Ausbildung, aber die Schüler können nun erst im zweiten Jahr entscheiden, in welchen Schwerpunkt sie im dritten Jahr wechseln werden.

Klingt doch gar nicht so schlecht, wenn man sich nicht sofort festlegen muss…

Für die Ausbildungsträger ist das aber schwierig. Sie müssen den Schülern schließlich diesen Entscheidungsspielraum ermöglichen. Bei einem Kurs mit 25 Leuten wissen Sie als Lehrkraft dann nie, in welchen Schwerpunkt es für die einzelnen Teilnehmer später gehen wird. Das erschwert den Unterricht. Und Einrichtungen wie die normale Krankenpflegeschule wird es dann wohl nicht mehr geben, weil sie eben spezialisiert sind und eine Dreifachausbildung gar nicht anbieten können.

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Noch in diesem Jahr soll in NRW über die Gründung einer Pflegekammer entschieden werden. Wie wichtig wäre so ein Gremium?

Extrem wichtig. Das gibt uns die Möglichkeit zur Selbstverwaltung. Viele Gesundheitsberufe vom Arzt bis zum Apotheker haben bereits eine solche Kammer – nur die Pflege nicht. Wir könnten dadurch nicht nur politisch auf Augenhöhe mitreden, wenn es um Aspekte wie Krankenhausvergütung geht, sondern hätten endlich die Möglichkeit, Qualitätsstandards zu gestalten. Kammern sind schließlich dazu da, die Bevölkerung in bestimmten Berufen, die von besonderer Bedeutung sind, vor unqualifizierten Menschen zu schützen. Bei Ärzten ist das selbstverständlich. In der Pflege bislang nicht.

Was heißt das genau?

In der Pflege kann theoretisch jemand, der den Beruf 20 Jahre nicht ausgeübt hat, direkt wieder anfangen – ohne Weiter- und Fortbildung. Das kann einfach nicht länger so sein. Wir müssen da bessere Standards schaffen. Pflege ist schließlich eine komplexe Handlung, bei der man viel falsch machen kann. Die Einführung einer Pflegekammer wäre ein echter Quantensprung.

Inwiefern kann denn bislang der Pflegerat Einfluss nehmen?

Der Pflegerat arbeitet eng mit dem Ministerium zusammen – etwa bei der Umsetzung der Ausbildungs- und Prüfungsordnung. Vieles dreht sich um Strukturen und Finanzierung. Die Zusammenarbeit mit dem Ministerium hat zuletzt deutlich an Qualität gewonnen – auch, weil wir mit Karl-Josef Laumann jetzt einen NRW-Gesundheitsminister haben, der zuvor in seiner Zeit als Pflegebeauftragter der Bundesregierung die Erfahrung gemacht hat, dass zu viel über und zu wenig mit Pflege gesprochen wird.

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Sehen wir mal vom Fachpersonal ab – pflegende Angehörige klagen ebenfalls über Überlastung. Wie können Sie denen helfen?

Wir können zumindest die Voraussetzungen dafür schaffen, dass es ihnen besser geht. Die Angehörigen sind diejenigen, die die riesige gesellschaftliche Aufgabe der Versorgung pflegebedürftiger Menschen am Ende tatsächlich tragen. Immerhin wird jeder dritte Pflegebedürftige zu Hause von Angehörigen gepflegt. Und die brauchen oftmals Unterstützung von Profis, von ambulanten Diensten also. Sie müssen sich darauf verlassen können, dass diese Leute qualifiziert genug sind. Das ist momentan nicht der Fall. Aber wir können das durch die Kammer schaffen.

Sieht also doch nach einer rosigen Zukunft aus.

Das wäre weit übertrieben. Wir werden das Zeit- und Kapazitätsproblem in der Pflege letztlich nicht lösen können. Es wird sich bedingt durch die demografische Entwicklung sogar noch deutlich verschärfen. Aber wir können das Problem lindern, wenn wir alle Möglichkeiten ausschöpfen, die sich uns bieten. Dazu gehört, die Attraktivität der Berufe zu erhalten und die Arbeitsbedingungen weiter zu verbessern.

Was schwebt Ihnen da vor?

Wir brauchen so etwas wie einen „Masterplan Pflege“, der bei Ausbildung beginnt und sich in Bezahlung, Fachkraftgewinnung und Bindung, unter vernünftigen Voraussetzungen auch aus dem Ausland, fortsetzt. Auch brauchen wir mehr Einsatz von Technik in der Pflege. Das hören viele nicht gerne, doch Technik muss nicht unbedingt zu Unmenschlichkeit führen.

Welche Technik meinen Sie?

An der Berliner Charité werden beispielsweise selbstfahrende Autos getestet – aber die Betten, die inklusive Patient bis zu 200 Kilo und mehr wiegen, schieben immer noch die Pflegekräfte. Warum sollte es nicht auch selbstfahrende Betten geben? Oder technische Systeme, die einen Patienten aus dem Bett heben. Diese Systeme können ja von Menschenhand gesteuert werden. So sind die Pflegekräfte immer noch direkt an der Seite des Patienten, aber schonen ihren eigenen Rücken. Über solche Dinge sollten wir uns in Zukunft noch viel mehr Gedanken machen.

Dass Risses Ideen gar nicht so weit her geholt sind, zeigt das Beispiel Japan. Dort hat 2015 „Robear“ seinen Dienst angetreten – ein Roboter in Bärenoptik, der per Tablet gesteuert werden kann und den Patienten zum Beispiel aus dem Bett in den Rollstuhl hebt. In Deutschland ist das noch reine Zukunftsmusik.

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