Beim Bürgerforum im Kolpingsaal mussten sich Bürgermeister Lothar Christ (r.) und Wirtschaftsförderer Matthias Stiller (2.v.l.) einigen kritischen Fragen stellen.

© Felix Püschner

Diskussion ums Industriegebiet: Flüchten Firmen ohne neue Flächen aus Werne?

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Geht es mit Werne bergab, wenn kein neues Industrie- und Gewerbegebiet an der Nordlippestraße entsteht? Bürgermeister und Wirtschaftsförderer nahmen dazu beim Bürgerforum Stellung.

Werne

, 18.11.2021, 10:30 Uhr / Lesedauer: 3 min

Braucht Werne ein neues Industrie- und Gewerbegebiet? Und falls ja, wie dringend eigentlich? Seit Monaten beantworten Stadt, ein Großteil der Politik und andere Befürworter aus der Werner Wirtschaft die erste Frage mit Ja. Wohlgemerkt, häufig verbunden mit dem Hinweis, dass man im nächsten Schritt zunächst einmal prüfen müsse, ob und in welcher Form sich der „Kooperationsstandort“ an der Nordlippestraße überhaupt realisieren lassen würde.

Beim jüngsten Bürgerforum im Kolpingsaal äußerte sich erstmals vor größerem Werner Publikum auch der Regionalverband Ruhr (RVR) als Planungsbehörde besagter Kooperationsstandorte zum Thema. Michael Bongartz erläuterte ausführlich, wie das bisherige Prozedere abgelaufen sei. Dass man beispielsweise 43 Standorte in der Region geprüft habe, von denen letztlich nur noch 24 infrage gekommen seien – und vor allem, dass man detaillierte Analysen durchgeführt habe, wie es um den Bedarf steht.

„Die Entscheidungen werden in Werne getroffen und nicht in Essen. Etwas anderes wird es mit mir nicht geben.“
Bürgermeister Lothar Christ

Das Ergebnis: In der Metropole Ruhr fehlen große zusammenhängende Gewerbeflächen. Genau genommen seien es, gemessen an der Nachfrage, 1600 Hektar. „Wir müssen europäisch denken, wir stehen im Wettbewerb mit anderen Metropolen und wir brauchen diese Flächen für die Ansiedlung von Betrieben von mindestens 5 Hektar, die viele Arbeitsplätze bringen können und zukunftsgerichtet sind “, sagte Bongartz unter anderem.

Vieles von dem, was der Referatsleiter im Kolpingsaal vortrug, war schon bekannt. Dennoch konnte manch einem das Gefühl beschleichen, der RVR denke hier größer, als es der Stadt Werne lieb ist.

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Nicht umsonst betonten Wirtschaftsförderer Matthias Stiller und Bürgermeister Lothar Christ gleich mehrfach, dass letztlich Werne das Sagen habe. Der Stadtrat entscheide über die Kriterien, nach denen die Firmen ausgewählt werden sowie über den Bebauungsplan und über den Verkauf der einzelnen Flächen, sagte Christ demonstrativ in Richtung Bongartz: „Das ist sicher. Etwas anderes wird es mit mir nicht geben. Die Entscheidungen werden in Werne getroffen und nicht in Essen.“

Neue Firmen sollen Arbeitsplätze und Gewerbesteuern bescheren

Welche Firmen möglicherweise in Zukunft an die Nordlippestraße ziehen, soll also Wernes Politik entscheiden. Und mit der Bäckerei Büsch gibt es bekanntlich ja auch schon einen Interessenten für eine 5-Hektar-Fläche im neuen Industrie- und Gewerbegebiet. Büsch soll der Lippestadt, genauso wie weitere potenzielle Firmen, nicht nur zusätzliche Gewerbesteuern bescheren, sondern auch Arbeitsplätze. Aber braucht Werne die eigentlich - zumal die Arbeitslosenquote derzeit „nur“ bei etwa 5 Prozent liegt und die Gewerbesteuereinnahmen in den vergangenen Jahren ohnehin schon in die Höhe geklettert sind?

Natürlich ja, sagen die Befürworter. Man stehe derzeit nur so gut da, weil man in der Vergangenheit die richtigen Entscheidungen getroffen habe (Stichwort Wahrbrink), hieß es von Seiten des Bürgermeisters. Und mit Blick auf die Entwicklung von Gewerbeflächen bedeute Stillstand quasi Rückschritt. Denn die Gefahr, dass Firmen, die derzeit in Werne ansässig sind und expandieren wollen, aufgrund von Flächenmangel flüchten, sei durchaus existent.

„Das Abwanderungsrisiko steigt, wenn keine Flächen mehr vorhanden sind“, gab Wirtschaftsförderer Matthias Stiller beim Bürgerforum zu bedenken. Man habe jüngst bei 73 Unternehmen angefragt und erfahren, dass jedes fünfte davon in den kommenden vier Jahren Flächenbedarfe habe. Wie groß diese Bedarfe in den einzelnen Fällen sind, konnte - oder wollte - der Wirtschaftsförderer jedoch nicht sagen. Nur so viel: „Insgesamt wurden uns 35 Hektar gemeldet. Aktuell stehen in Werne aber nur noch knapp 3 Hektar zur Verfügung.“

Das Gewerbegebiet nördlich der Nordlippestraße würde Werne rund 31 Hektar Fläche bescheren. Klingt gut, hat aber einen Haken. Denn unter 5 Hektar ist dort laut aktuellen Planungen keine Fläche zu haben. Maximal könnten sich somit 6 Unternehmen im neuen Gewerbegebiet ansiedeln. Für die 15, die Bedarfe angemeldet haben, ist somit schon mal kein Platz. Ein Kritikpunkt, den die Gegner des Kooperationsstandorts gerne aufgreifen, wenn sie für die Stärkung der mittelständischen Betriebe plädieren, die bereits in Werne ansässig sind.

Pro Hektar nicht weniger als 30 Arbeitsplätze

Dass Werne grundsätzlich kein unattraktives Pflaster für Firmen von außerhalb ist, haben Ansiedlungen wie die von Amazon oder jüngst des Transport- und Logistikunternehmens Hellmann Worldwide Logistics gezeigt. Letzteres hatte bekanntlich das einstige Ikea-Gelände im Wahrbrink gemietet, um dort ein großes Lager für den Pumpenhersteller Wilo einzurichten.

Ob die Stadt die 31-Hektar-Fläche nördlich der Nordlippestraße überhaupt gänzlich überplanen würde, steht laut Stiller noch längst nicht fest. Täte sie das, müsste das neue Gewerbegebiet der Stadt wohl mindestens 900 neue Arbeitsplätze bescheren. Denn „ein Verkauf an Betriebe, die deutlich weniger als 30 Arbeitsplätze pro Hektar mit sich bringen, kommt grundsätzlich nicht in Betracht“, wie Wernes Bürgermeister schon vor Monaten auf Anfrage unserer Redaktion erklärte.

Eine Sache liegt nun aber definitiv nicht mehr allein in der Hand von Stadt und Politik: Die Antwort auf die Frage, ob Werne tatsächlich ein neues Industrie- und Gewerbegebiet benötigt. Die geben die Bürger selbst beim Bürgerentscheid am 12. Dezember.

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