Flucht nach Schanghai Die jüdische Familie Kaufmann überlebte den Holocaust

Von Harald Küst, Von Eva-Maria Spiller
Flucht nach Schanghai: Familie Kaufmann überlebte den Holocaust
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Herbert Eugen und Frau Gertrud Kaufmann (geborene Rossbach und Buchhalterin) sind einige der wenigen Juden, die den Massenmord durch das Nazi-Regime überleben sollten. Gertrud, geboren in Hamm und aufgewachsen in Bochum, und Herbert, geboren in Essen und aufgewachsen in Herne. 1932 kamen die beiden nach Werne, wie die Seite verwischte-spuren.de dokumentiert hat. Hier eröffneten die beiden ein Geschäft für Arbeitsbekleidung in der Bonenstraße 9. Und das, obwohl Herbert Kaufmann gelernter Metzger war.

Doch nur ein Jahr später, am 1. April 1933, mussten die Kaufmanns ihr Geschäft schon wieder schließen. Die Nationalsozialisten riefen zum Boykott jüdischer Geschäfte auf, wie Archivar Josef Börste im Jahrbuch 2013 des Kreises Unna erklärte. SA-Männer blockierten den Eingang des Hauses. Als Jude fand Herbert Kaufmann auch keine Anstellung mehr im Verkauf und musste als Hilfsarbeiter im Tief- und Straßenbau den kargen Lebensunterhalt der inzwischen vierköpfigen Familie - mit den Kindern Rolf (geboren im Juni 1933) und Erika (geboren September 1936) - bestreiten. Das Haus an der Burgstraße 13 war der letzte frei gewählte Wohnsitz der Kaufmanns.

Auch an der Burgstraße 13 haben die Kaufmanns gewohnt.
Auch an der Burgstraße 13 haben die Kaufmanns gewohnt. © Stadtmuseum Werne

Die Ausgrenzung jüdischer Einwohner nahm auch in Werne zu. Herbert Kaufmann wurde in der Pogromnacht vom 9. auf den 10. November 1938 verhaftet und kam über das Polizeigefängnis Herne in das KZ Sachsenhausen. Am 5. Januar 1939 wurde er entlassen, aber Diskriminierung und Ausgrenzung bestimmten weiter den Alltag der deutschen Juden. „Im selben Jahr wurde die Familie gezwungen, ihr Haus in Werne zu räumen und in die jüdische Schule umzuziehen. In dieser waren inzwischen mehrere jüdische Familien zwangsweise einquartiert worden. Es fungierte als ein sogenanntes Judenhaus“, heißt es auf der Seite Verwischte Spuren.

Im März 1940 wurde die Familie in das Hammer Judenhaus an der Stiftstraße 6 zwangseingewiesen. Die Unterbringung in einem Judenhaus erleichterte die Überwachung und später die Deportation. „Ariern“, so die zynische Begründung, sei das Zusammenleben mit Juden im selben Haus nicht zuzumuten.

Die Schikanen und Übergriffe in Hamm gaben vermutlich den Ausschlag zur Flucht. Als praktisch weltweit keine Aussicht mehr bestand, eine Zuflucht zu finden, war es einzig die Metropole Schanghai, die weder Visum noch exklusive Beziehungen verlangte. Schon auf der gescheiterten Konferenz in Evian am Genfer See hatte sich gezeigt, dass kaum ein anderes Land bereit war, jüdische Flüchtlinge aufzunehmen.

2,5 Quadratkilometer

„Die Kaufmanns gelangten jedoch von Hamm zunächst nach Berlin und konnten über die damalige russische Monopol-Agentur ‚Intourist‘ nach Russland weiterreisen“, recherchierte Kreisarchivar Josef Börste aus Werne. Im August 1940 erreichte die Familie nach 9000 Kilometern Fluchtweg Schanghai. Vertreter von Hilfskomitees brachten die Ankömmlinge in Notunterkünfte.

Eine fremde Kultur, ein ungesundes Klima - doch es war die letzte Chance für viele Juden, der Deportation und Ermordung in den Konzentrationslagern zu entgehen. In Schanghai fragte niemand nach Visum oder Glauben. Von Mai 1943 bis August 1945 lebten hier - von den japanischen Besatzern zusammengepfercht - rund 20.000 jüdische Flüchtlinge, die meisten aus Deutschland, Österreich und Polen. Sie drängten sich mit mehr als 10.000 Chinesen auf zweieinhalb Quadratkilometern. Am 18. Februar 1943 befahlen die japanischen Besatzer den jüdischen Emigranten, binnen 90 Tagen nach Hongkou, dem zentral gelegenen Stadtteil Schanghais, zu ziehen. Von einer „Schutzmaßnahme“ für staatenlose Flüchtlinge, die Schanghai nach 1937 erreicht hatten, war in dem Befehl die Rede.

Neue Heimat Kalifornien

Die Japaner wiesen die Kaufmanns im Mai 1943 ins streng bewachte Ghetto. Die Grenzen des Ghettos - Huomin Road, Tongbei Road, Zhoujiazui Road und Gongping Road - sind noch heute erkennbar. Wenige verblasste Spuren erinnern an die Tage, als in den Straßen Kun Ming oder Chang Yang auf Reklametafeln in deutscher Schrift Zahnärzte, Bäckereien, Gemüsehändler und Wäschereien ihre Dienste anboten.

Das Leben im Ghetto war hart. Die Bewohner litten unter katastrophalen hygienischen Verhältnissen. Kriminalität und Korruption waren an der Tagesordnung. Die Zeit war schrecklich, aber die Familie Kaufmann verdankt der Stadt Schanghai ihr Leben. 1947 fanden die Kaufmanns eine neue Heimat in den USA.

Bernd Kröger schrieb 2012 in einem WA-Artikel über die Kaufmanns: „Für die 23 Monate ‚Schaden an der Freiheit‘ zahlte die Bundesrepublik später jedem Familienmitglied 150 D-Mark pro Monat - 3450 DM.“ Mit der Hilfe des American Jewish Joint Distribution Committee gelang es der Familie demnach, mit dem Schiff von Schanghai nach San Francisco zu fahren und bekam dafür 811,50 Dollar an Unterstützung. In Oakland in Kalifornien fand die Familie eine neue Heimat.

Schadensersatz in 1967

1954 machte die Familie laut Kröger Schadensersatzansprüche gegen die Bundesrepublik geltend. Weil aber Belege für die wirtschaftlichen Schäden fehlten, zog sich das Verfahren hin und endete nach Teilzahlungen in einem Vergleich 1964 mit der mittlerweile zur Witwe gewordenen Gertrud Kaufmann. Herbert Kaufmann war 1961 gestorben. Sohn Rolf erhielt noch 1967 Schadensersatz.

Dieser Artikel ist in seiner ursprünglichen Form bereits am 2. Januar 2016 erschienen, wurde nun aber neu aufbereitet.

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