Für sein perfides Vorgehen, Juden unter dem falschen Anschein von Sicherheit in den Tod zu locken, war das NS-Regime bekannt. Ein Beispiel dafür ist das Schicksal der Familie Blumenthal aus Werne. Wolf-Wilhelm wird am 21. August 1875 in Gröbzig in Sachsen-Anhalt geboren. Seine spätere Frau Josefine, geborene Rosenberg, kommt am 26. August 1869 in Horneburg in Niedersachsen zur Welt. Vor 1912, so heißt es auf der Internetseite Spuren im Vest, ist die Familie Rosenberg aus Niedersachsen nach Dortmund-Mengede umgezogen.
Am 1. Dezember 1904 ziehen Josefine und Wilhelm von Mengede nach Werne, zunächst an den Markt 10, in das heutige Gebäude der Ruhr Nachrichten, wie Archivar Josef Börste erklärt. Die beiden heirateten am 14. März 1905, wie es in einem umfangreichen Bericht über die Familie Blumenthal im Westfälischen Anzeiger vom 9. November 2016 heißt.
Darin bildet Autor Bernd Kröger das damalige Leben und das Schicksal der Blumenthals aus Werne ab. Aus der Ehe der beiden geht Sohn Walter hervor, der am 1. Juni 1906 das Licht der Welt erblickt und sich wie Vater Wilhelm für den Beruf des Kaufmanns entscheiden sollte. Im Mai 1911 melden die beiden ihren neuen Wohnsitz an der Bonenstraße 2 an und eröffnen hier laut Börste ihren ersten Schuhladen. Im Oktober 1915 ziehen sie in die Bonenstraße 11, bevor sie dann ab 1931 in der Bonenstraße 17 wohnen und hier ihren Schuhladen weiterführen.

„Walter Blumenthal betrieb ein gutgehendes Schuhgeschäft an der Bonenstraße 17“, heißt es auf der Seite Spuren im Vest. Die Familie habe zu den assimilierten jüdischen Mitbürgern gehört, wie Kröger in seinem Bericht schreibt. Doch das NS-Regime habe keine Mühe gescheut, um die Existenz der Familie vollständig auszulöschen.
Am Abend des 9. November 1938 fand im damaligen Adolf-Hitler-Park (heute Stadtpark) eine Gedenkfeier zur Niederschlagung des Hitler-Ludendorff-Putsches 1923 statt. Zeitgleich erhielten in Ahlen SS-Mitglieder - nach der Ermordung des NS-Diplomaten Ernst von Rath durch einen jüdischen Mann - den Befehl, alle jüdischen Familien in Werne im Zuge der sogenannten „Juden-Aktion“ aus ihren Häusern zu vertreiben.
Bernd Kröger schreibt davon, wie sich die SS-Rückkehrer aus Ahlen mit den Teilnehmern der Gedenkfeier aus dem Stadtpark zu einem teils betrunkenen Mob formierten. In aufgeladener Atmosphäre habe der Mob unter den Augen des damaligen Bürgermeisters und Polizeichefs Dr. Georg-Johann Kraus Wohnungen und Geschäfte jüdischer Familien gestürmt.
„Sie warfen die Fenster ein, zerschlugen das Mobiliar und trieben die Männer auf den Marktplatz und schließlich weiter zur Synagoge. Viele der Männer erlitten schwerste Verletzungen“, heißt es auf der Seite Spuren im Vest. Die Familie Blumenthal war dabei keine Ausnahme: „Während der Pogromnacht wurde [das Schuhgeschäft der Familie Blumenthal, Anm. d. Red.] geplündert, das Lager verwüstet, hunderte Paar Schuhe auf die Straße geworfen.“
Schuhe auf der Straße
In dem Buch Werne 1933 bis 1945 findet sich ein Augenzeugenbericht: „Am Tag nach der Reichskristallnacht, also am 10. November 1938, lagen noch immer die gesamten Schuhe des jüdischen Schuhgeschäftes Blumenthal auf der Bonenstraße. Die Nazis sind in der Nacht zuvor in das Haus eingedrungen und hatten sämtliche Schuhe aus dem Fenster geworfen. [...] Obwohl die Schuhe neuwertig waren und auf der Straße lagen, wagte kaum einer der Werner Bürger, die Schuhe aufzuheben und mit nach Hause zu nehmen.“
Wahrscheinlich, weil es für den Großteil der Ware vorab schon andere Pläne gab, schreibt Bernd Kröger: „In der Wohnung wurden, wie überall, Hausrat und Möbel kurz und klein geschlagen. An der Ware verging sich aber kaum jemand, hier wurden sogar Plünderer gestoppt. Scheinbar ganz im Sinne von Bürgermeister und Polizeichef Kraus, der obendrein NSDAP-Ortsgruppenleiter war und es am nächsten Morgen gleich auf die Schuhe abgesehen hatte.“

5300 Paar Schuhe für 7553 Reichsmark
„Im Zuge der Verwüstungen mussten Blumenthals ihren Laden im Dezember 1938 aufgeben. Es kam zur Zwangsabwicklung und im Januar 1939 kaufte ein Solinger Kaufmann die restlichen Lagerbestände zu einem Spottpreis auf“, schreibt die Seite Spuren im Vest. Wie spöttisch dieser Preis war, verdeutlicht Bernd Kröger in seinem Zeitungs-Artikel: „Für 5300 Paar Schuhe strich das Regime 7553,50 Reichsmark bei dem Geschäft mit einem arischen Profiteur ein. Der linientreue Jurist [Kraus, Anm. d. Red.] verdiente auch nicht schlecht daran: 711,40 Reichsmark machte er laut Gebührensatz für Konkursabwicklung geltend. Zuzüglich penibel aufgelisteter Auslagen für Porto, Ferngespräche, Fahrten über Land und Abwesenheitstage von 35,26 Reichsmark.“
Die Blumenthals waren bereits zuvor nach Münster geflüchtet, wo sie bei der Familie des jüdischen Anwalts Ludwig Kaufmann unterkamen. Theresia „Thea“ Stein lebte hier bereits seit April 1937 mit ihren Eltern. Am 20. Dezember 1938 heiraten Walter Blumenthal und Thea Stein. „Zuerst haben wir heute Hochzeit gefeiert, und zwar hat Herr Scheuer bei uns im Musikzimmer Herrn Blumenthal aus Werne und Fräulein Thea Stein getraut“, wird Lucie Kaufmann im Dezember 1938 in dem Buch Jüdische Familien in Münster zitiert. Ihre Eltern traten nur zehn Tage nach der Trauung die Reise nach Brasilien an, um ihren anderen drei Kindern zu folgen. Diesen Plan wollten auch die Blumenthals verfolgen, doch so weit kam es nicht mehr.

Finanzielle Schikane
Der im Februar 1939 beantragten Ausreise der Familie nach Brasilien wurden Steine in den Weg gelegt. Zum einen, berichtet Bernd Kröger, mussten die Eltern Blumenthal zur „Sicherung der Reichsfluchtsteuer“ den Gegenwert der Waren zahlen, die sie mit ins Ausland nehmen wollten: 1500 Reichsmark. Von den Kindern wurden 1850 Reichsmark für ihren Hausrat verlangt. Plus 420 weitere Reichsmark, die später verlangt wurden. Die Eltern Blumenthal kamen - auch durch weitere abverlangte Zahlungen - in finanzielle Schwierigkeiten. Und genau zur Abreise erkrankten Mutter Josefine an Hepatitis und Sohn Walter an Tuberkulose, nachdem er seit dem Frühjahr 1939 zur Arbeit zwangsverpflichtet worden war.
Als die Familie Kaufmann zum Verkauf der Wohnung in Münster gezwungen war, um die verlangte Vermögensabgabe zahlen zu können, mussten die Familien eine andere Unterkunft finden. Die Blumenthals kamen laut Kröger am 5. Mai bei der Familie Feibes an der Salzstraße unter. Bis die Familien am 3. Februar 1942 in das Schulgebäude der Marks-Haindorff-Stiftung am Kanonengraben 4 zwangseingeliefert wurden, um auf ihre letztendliche Deportation zu warten.

Walter erliegt der Tuberkulose
Dort teilte sich die Familie Blumenthal zwei kleine Zimmer. In einem dieser Zimmer kämpfte Walter Blumenthal über zehn Wochen mit seiner Tuberkulose, wie das Buch Jüdische Familien in Münster schildert. Am 12. Juni 1942 wurde er ins Franziskus-Hospital eingeliefert. In einem Zimmer ohne Fenster, „da lag dieser elende lungenkranke Mann. Der war so wund!“, wird seine Krankenschwester Carliana zitiert, die sich trotz Anfeindungen um ihn kümmerte. Im Krankenhaus erlag er seiner Erkrankung nur einen Tag später.
Für die Pflege ihres Mannes war Thea Blumenthals Deportation nach hinten verschoben worden. Doch kaum vier Wochen nach dem Tod ihres Mannes, am 10. Juli, wurde sie als einzige Jüdin aus Münster ins Ghetto nach Warschau gebracht. Ein Stolperstein zu ihren Ehren wurde in Beckum verlegt, wo sie damals mit ihren Eltern lebte. Was nach der Deportation genau mit ihr geschah, ist bis heute unbekannt.
Ermordet in Treblinka
Nur rund drei Wochen später, am 1. August 1942, wurden auch Josefine und Wilhelm Blumenthal mit dem Transport XI/1, nr. 739 in den Tod geschickt. Das Perfide, so schreibt es Kröger: „Tage zuvor hatte ihnen das Nazi-System noch vorgegaukelt, sich selbst und anderen mittellosen Juden mit einem ‚Heimeinkaufsvertrag‘ vom 26. Juli und Übertragung der letzten Barschaft an die ‚Reichsvereinbarung der Juden in Deutschland‘ angemessene Unterkunft und Verpflegung im Lager Theresienstadt gesichert zu haben.“ Dafür verkauften die Blumenthals ihre Möbel. 150 Reichsmark Verpflegungssatz wurden abverlangt, doch in Realität wurden nicht mehr als 10 Reichsmark pro Kopf investiert, heißt es in dem Buch Jüdische Familien in Münster.
Doch in Theresienstadt hielt sich das Ehepaar nur kurz auf. Stattdessen ging es für sie am 23. September 1942 weiter nach Treblinka nordöstlich von Warschau, wo sich eines der größten Vernichtungslager der Nazis befand. Auf den Stolpersteinen der Eheleute Blumenthal in Werne, die sich vor der letzten frei durch sie gewählten Wohnstätte befinden, ist die Aufschrift zu lesen: „Ermordet in Treblinka“.