Offiziell ging der 2. Weltkrieg in Deutschland mit der Kapitulation am 8. Mai 1945 zu Ende. In Werne endete die Nazi-Herrschaft bereits einen guten Monat zuvor. In Stockum rückten die Amerikaner am 1. April, Ostersonntag, ein. Theo Jurek (91) war damals 12 Jahre alt und kann sich noch gut an diese Zeit erinnern. „Das Gedächtnis lässt zwar nach, aber ich habe vor zwei Jahrzehnten für einen Vortrag meine Erinnerungen detailliert aufgeschrieben“, sagt er im Gespräch mit der Redaktion. Angst habe er damals wenig verspürt, „für uns Jungs war das eher ein Abenteuer.“
Das „Abenteuer Kriegsende“ begann zwei Tage zuvor, am Karfreitag, mit einer schlimmen Nachricht für die männliche Bevölkerung in Stockum. Wer noch nicht eingezogen war, etwa, um die Stromproduktion im Gernsteinwerk aufrechtzuerhalten, sollte nun für den „Endsieg“ kämpfen. Auch Theo Jureks Vater Theophil.

Das letzte Aufgebot eingezogen
Jurek senior, Jahrgang 1900, war im Gersteinwerk tätig. „Aber das war schon so stark beschädigt, dass man meinen Vater und andere für die Arbeit nicht mehr benötigte“, erinnert sich der Stockumer. Also sollten sie den Vormarsch der Alliierten stoppen. An Karfreitag 1945, 30. März, „ging es um 9 Uhr auf dem Schulplatz los“. Das letzte Aufgebot war in eine Gruppe Jüngerer und eine Gruppe Ältere, darunter Vater Theophil, aufgeteilt. „Die Älteren sollten zur Ausbildung Richtung Osten, die Jüngeren wohl direkt an die Front“.
Jureks Vater hatte Glück. Seine Einheit kam nur bis Dolberg. Dort schickte ein Ausbilder, der die Sinnlosigkeit erkannt hatte und sich selbst absetzen wollte, das letzte Aufgebot wieder nach Hause. „Schon am nächsten Tag, Ostersamstag, war mein Vater wieder daheim.“ Die Jüngeren kamen allerdings erst nach rund sechs Wochen zurück.

Die Amerikaner in Stockum
„Am nächsten Tag, es war Ostersonntag, 1. April, ging meine Familie früh zur Ostermesse.“ Auf dem Weg zur Kirche St. Sophia sahen sie plötzlich aus Richtung Bockum-Hövel amerikanische Jeeps. „Auf den Kühlerhauben saßen deutsche Kriegsgefangene.“ Doch die Jureks und die anderen Familien besuchten die Messe und gingen dann, als wäre nichts geschehen, nach Hause. Doch der Frieden trog.
„Wenig später“, erinnert sich der 91-Jährige, „es muss etwa 11 Uhr gewesen sein, klopfte es an unserer Haustür. Drei amerikanische Soldaten standen davor“. Sie suchten „Soldaten“ und „Gewehre“ bei Jureks. „Sie fanden weder das eine noch das andere und zogen wieder ab.“ Kaum waren sie draußen, bekam die Familie einen Riesenschreck. Denn Vater Theophil hatte am Karfreitag, als er eingezogen worden war, eine Kampfmontur mit einer Binde des Volkssturmes bekommen. „Die hing an der Garderobe im Flur. Aber zum Glück hing darüber ein anderes Kleidungsstück, sodass die Amerikaner nichts bemerkten.“ Glück gehabt.

Amerikaner sprengen Brücken
Wie ging es weiter? „Eigentlich vergleichsweise ruhig.“ Nach dem Schreck mit der Volkssturm-Binde gingen Vater und Sohn am Mittag des Ostersonntags durch Stockum, um die Lage zu peilen. „Es war alles ruhig, bis es plötzlich drei Mal hintereinander laut knallte.“ Die Alliierten hatten die drei Brücken über Lippe und Kanal gesprengt. Schließlich lagen jenseits noch Wehrmachts-Soldaten.
Die Amerikaner richteten sich in Stockum ein. Beschlagnahmten das Hotel Gersteinwerk (heute Stockumer Hof) sowie die Dienstwohnungen des Kraftwerks. „Die Bewohner mussten vorübergehend woanders unterkommen.“ Die Lage blieb ruhig. Doch einige Tage später knallte es und eine Granate oder Ähnliches schlug in einem Dach in der Nähe der Jureks ein. Deutsche Soldaten kämpften weiter.
Statt Feinde eine Kuh getroffen
Die Amerikaner antworteten mit Artillerie-Feuer aus ihren Kanonen, „die beim Ortsteil Horst in Stellung standen“, sagt Jurek. Doch die Amis zielten zu kurz. Statt die Wehrmacht jenseits von Lippe und Kanal zu treffen, schlugen die Geschosse am Rande von Stockum ein. „Ich weiß noch, dass es dabei eine Kuh auf dem Hof Rasche erwischt hat“, sagt Jurek mit einem leisen Schmunzeln. Auch in Stockum war der Krieg in diesem ersten April-Tagen noch nicht ganz vorbei.
„Aber ansonsten war es ruhig bei uns.“ Die unterbrochene Wasserversorgung setzte VEW provisorisch mit einer Pumpe an der Lippe wieder in Gang, allerdings nicht als Trinkwasser. „Das mussten wir aus einem Brunnen in der Nachbarschaft holen.“ Dazu musste man die vier Stunden Ausnahme von der Ausgangssperre nutzen: von 10 bis 12 und von 15 bis 17 Uhr, meint sich der Ur-Stockumer zu erinnern.
Lebensmittel gab‘s - offiziell - nur auf Bezugskarten. „Aber das kannten wir ja zuvor schon aus den Kriegsjahren.“ In seinen Unterlagen hat Jurek Auflistungen der Rationen. Für Erwachsene zum Beispiel 500 Gramm Brot und 50 g Fleisch - pro Woche, versteht sich. Aber der pfiffige Zwölfjährige aus Stockum und seine Kumpel lernten alle Tricks der Lebensmittelbeschaffung. „In Stockum und im benachbarten Sandbochum gab‘s unterschiedliche Bezugsschein-Nummern.“ Und so gelang es ihm mehrfach, die begehrte Rationen für Wurst gleich doppelt einzuheimsen - ein großes Abenteuer eben.
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