Am Kunstrasen scheiden sich die Geister. Ohne geht es nicht, sagen Fußballer. Manche Inhaltsstoffe sollen krebserregend sein. Und Umweltschützer verdammen ihn als Mikroplastik-Quelle.

Vreden

, 08.03.2019, 14:00 Uhr / Lesedauer: 4 min

Der Blick aller Kritiker ging vor zwei Jahren nach Skandinavien. Wissenschaftler des Umweltforschungszentrum „Framsenteret“ im norwegischen Tromsø hatten herausgefunden, dass das eingestreute Granulat von den Kunstrasenplätzen über die Kanalisation am Ende ins Meer gelangt. Rund 3000 Tonnen sollen allein in Norwegen jedes Jahr in den Fjorden landen. Das Fraunhofer-Institut für Umwelt-, Sicherheits und Energietechnik (Umsicht) hat daraufhin in seiner Konsortialstudie festgestellt, dass als Mikroplastikquelle Verwehungen von Sport- und Spielplätzen ganz vorne liegen. Zusammen mit Reifenabrieb, Freisetzung bei der Abfallentsorgung, Abrieb von Bitumen in Asphalt und Pelletverlusten.

Zwei neue Plätze in Vreden geplant

Von Tromsø in Nordnorwegen nach Vreden im Westmünsterland: Dort wünschen sich die Sportvereine zwei neue Kunstrasenplätze, und es gibt einen „alten“ Kunstrasenplatz im Sportzentrum an der Ottensteiner Straße. An einem sonnigen Freitagmittag im Februar erklären Platzwart Dieter Schäfer und Ede Kampshoff von der Spielvereinigung Vreden im Gespräch mit der Redaktion, warum für sie Fußball ohne Kunstrasenplätze gar nicht mehr möglich ist. „Siehste, gerade ist die Ampel überall auf Grün gesprungen“ sagt „Pape“ Dieter Schäfer nach einem prüfenden Blick aufs Smartphone. Die Online-Ampel der Stadtverwaltung ist Gesetz, wenn es um gesperrte Plätze geht.

Was ist Kunstrasen?

Laut Internetenzyklopädie Wikipedia ist Kunstrasen eine Art Kunststoff­teppich, der in Beschaffenheit und Aussehen einem Naturrasen nahekommt. Vorzugsweise wird er auf Sportplätzen, beispielsweise für Hockey und Fußball, verwendet, in den letzten Jahren aber auch vermehrt im gewerblichen (Messen, Events, Ausstellungsräumen) und Privatbereich (als Ersatz für Naturrasen oder bspw. auf Balkons und Dachterrassen) als Bodenbelag. Während der Sand als untere Schicht in erster Linie den Fasern des Spielfelds festen Halt verleiht, ist die Granulatverfüllung mit einem größeren Anteil an der Steuerung der Spieleigenschaften und Belastbarkeit beteiligt.

Bis gerade waren alle Naturrasenplätze gesperrt nach dem kurzen winterlichen Einbruch, allein beim Kunstrasenplatz leuchtete „Grün“. Und das ist der Punkt: Der Platz ist auch im Winter nutzbar. „Die Erste trainiert dreimal die Woche. Die waren dieses Jahr noch kein Mal auf Rasen“, erklärt Dieter Schäfer. Am Abend gehe es für Rob Rekers und sein Team mal wieder nach Winterswijk zum Training. Weil freitagsabends der FC Vreden den Kunstrasen im Vredener Sportzentrum nutzt, und die SpVgg am Sonntag auf Kunstrasen spielt und deswegen auf Kunstrasen trainieren möchte. Auch wenn die Kicker dafür ins Nachbarland fahren müssen.

Nur bei dichter Schneedecke müssten Spiele oder Training ausfallen

„Es fällt eigentlich kein Spiel mehr aus. Außer, wenn dick Schnee liegt“, führt Ede Kampshoff ein weiteres Argument an. 44 Mannschaften hat die Spielvereinigung. Da wird trainiert, da werden Meisterschaftsspiele ausgetragen. Die Platzanlage bei dem Betrieb ohne Kunstrasen? „Nein, das geht gar nicht“, steht für den SpVgg-Aktiven fest, und Platzwart „Pape“ nickt zustimmend. Er pflegt den Kunstrasenplatz, indem er einmal pro Woche einen „Dreiecksbesen“ hinter seinen kleinen Aufsitzmäher hängt und somit das Granulat auf dem Platz verteilt. „Wenn ich den Schnee vom Kunstrasenplatz fegen würde, würde ich das Granulat mit wegfegen“, erklärt Dieter Schäfer, warum der Kunstrasenplatz nur fast allwettertauglich ist. Über die wöchentliche Pflege hinaus werde der Platz einmal im Jahr von einer Fachfirma einer Grundreinigung unterzogen. Pflegeintensiver seien die Naturrasenplätze schon im Vergleich. Gerade, wenn im Sommer gute Bedingungen herrschen fürs Rasenwachstum, müsse die Stadt dreimal die Woche mähen. „Und manchmal muss ich sogar noch sonntags vorm Spiel zwei Stunden ran, auch wenn die Stadt freitags noch gemäht hat“, weiß Dieter Schäfer zu berichten.

Die Zweite der Spielvereinigung Vreden hatte am Abend ein Spiel gegen SG Coesfeld – beim Aufwärmen (Foto) und beim Spiel war der Kunstrasen Ort des Geschehens.

Die Zweite der Spielvereinigung Vreden hatte am Abend ein Spiel gegen SG Coesfeld – beim Aufwärmen (Foto) und beim Spiel war der Kunstrasen Ort des Geschehens. © Raphael Kampshoff

Der „alte“, im Oktober 2009 eingeweihte Kunstrasenplatz, ist aus Spielersicht nicht der komfortabelste. Wenn jetzt die Entscheidungsfindung ansteht, würden Ede Kampshoff und Dieter Schäfer den Verantwortlichen von Stadt und Kommunalpolitik einen Ausflug entweder zum FC-Winterswijk-Gelände oder zum Platz der zweiten Mannschaft von Preußen Münster empfehlen. „Der ist wie ein Teppich“, schwärmt Dieter Schäfer. Eine zusätzliche Schicht aus „gebröselten Autoreifen als Dämmung“ ist darin verarbeitet, wissen die beiden. Wohingegen bei dem Vredener Platz der Kunstrasen mit dem schwarzen Granulat direkt auf dem Schottergrund liegt. 435 000 Euro hat er seinerzeit gekostet. „Wir haben nicht den Ferrari, aber einen guten Mittelklassewagen genommen“, beschrieb der damalige Bürgermeister Hermann Pennekamp bei der Eröffnung die Entscheidung des Rates zur Qualität und zum Preis des Platzes. Mitten in der Weltwirtschaftskrise war die Investition in Vreden wahrlich nicht unumstritten.

Grüne sind dagegen

Zwei neue Kunstrasenplätze – nur die Grünen-Fraktion sprach sich bislang dagegen aus. Wenn es denn überhaupt Kunstrasenplätze sein müssten, dann gäbe es Alternativen zu Altreifen als Granulatmaterial. Abgesehen von der Mikroplastik-Diskussion sähen die Grünen auch das Entsorgungsproblem nicht annähernd überdacht. Den Hinweis der Stadtverwaltung auf „thermische Verwertung“ als eine der Entsorgungsmöglichkeiten bringt den Grünen auf die Palme: „Es geht doch auch keiner hin und verbrennt einfach Altreifen!“ Die Grünen-Fraktion aus Vreden sei der festen Meinung, dass es hier nicht 100 Prozent zu Null gegen die Umwelt sein könne: „Wenn Fußballspieler einen Kompromiss eingehen müssen, weil es der Umwelt zugute kommt, ist das zumutbar“, findet er. Geht es nach den Grünen, seien zusätzliche Flächen für eine höhere Nutzbarkeit im Sportzentrum eine Alternative. Und eine erneute Überprüfung, ob auch alle bestehenden Naturrasenplätze gut ausgenutzt werden oder ob noch eine bessere Vernetzung der Vereine helfen könnte.

In Niedersachsen schon im Landtag diskutiert

Im Nachbarbundesland Niedersachsen ist das Thema schon auf der landespolitischen Tagesordnung gelandet. Der CDU-Abgeordnete Martin Bäumer hatte dazu eine kleine Anfrage im Landtag gestellt. Die Landesregierung verwies in ihrer Antwort auf die Erkenntnisse des Fraunhofer-Instituts „Umsicht“, nach dessen Berechnungen der durchschnittliche Eintrag in die Umwelt von Mikroplastik durch künstliche Sportplätze durchschnittlich bei 249 Gramm/Kopf/Jahr liege, „wobei hier sowohl Granulat als auch Fasern berücksichtigt wurden. Damit liegt der Eintrag von Mikroplastik aus künstlichen Sportplätzen an dritter Stelle nach Reifenabrieb (1 031 Gramm/Kopf/Jahr) und Transport- & Produktionsverlusten (450 Gramm/Kopf/Jahr)“. (Quelle: Bericht der Konsortialstudie, Fraunhofer Umsicht). In den deutschsprachigen Medien wurde in den vergangenen zwei Jahren über die Studien in Norwegen, in Schweden und auch des Fraunhofer Instituts berichtet. „Vom Bolzplatz in den Ozean“ titelte die „Taz“ , „Spiegel online“ überschrieb seinen Artikel über Kunstrasen mit „Eine Katastrophe für die Umwelt“, die Frankfurter Allgemeine Zeitung urteilte gar „Lieber Asche als Kunsthalme“ und der „Schweizer Blick“ sieht auch nur eine Konsequenz: „Kunstrasen sind eine Umweltsünde“.

Die Rasenplätze werden von der Stadtverwaltung gesperrt, wenn der Boden wegen Regens oder Frost oder beidem nicht bespielbar ist. Das Schild gilt, auch wenn es auch in Vreden seit der Kommunalreform 1994 keinen "Stadtdirektor" mehr gibt.

Die Rasenplätze werden von der Stadtverwaltung gesperrt, wenn der Boden wegen Regens oder Frost oder beidem nicht bespielbar ist. Das Schild gilt, auch wenn es auch in Vreden seit der Kommunalreform 1994 keinen "Stadtdirektor" mehr gibt. © Anne Winter-Weckenbrock

Die Stadtverwaltung Vreden überdenke ihre Planungen für zwei Kunstrasenplätze wegen der bekannt gewordenen Studienergebnisse nicht, sagte der Erste Beigeordnete Bernd Kemper auf Anfrage der Münsterland Zeitung. Es gelte noch die Fragen abschließend zu klären ob, wann und wenn ja, in welcher Ausführungsart, so Bernd Kemper. Die Verwaltung hatte im November den Auftrag erhalten, mit den Vereinen die Details auszuarbeiten und ein Finanzierungskonzept aufzustellen. „Ein erstes Gespräch mit den Vereinen hat auch schon stattgefunden“, so der Erste Beigeordnete.

„Nur Materialien, die nicht gesundheitsgefährdend sind“

Im Anschluss geht das Thema wieder in den kommunalpolitischen Entscheidungsprozess. Der Rat müsse ja überhaupt noch beschließen, dass es zwei neue Kunstrasenplätze geben soll, so Kemper. „Aus eigener Sicht als aktiver Fußballer kann ich sagen: Die Vorteile eines Kunstrasenplatzes sind vielfältig“, betonte der Beigeordnete. Er befürwortete eine Dämmung mit Granulat, „schon wegen der Verletzungsgefahr.“ Auf die Materialien wegen der möglichen krebserregenden Inhaltsstoffe und des Mikroplastik-Problems angesprochen, sagte Bernd Kemper, dass es aus seiner Sicht selbstverständlich sei, dass beim späteren Bau der Plätze nur Materialien verbaut werden dürfen, die nicht gesundheitsgefährdend sind. Auch sollte die Frage der späteren Entsorgung schon bei der Angebotsabfrage mit geklärt sein.

Jetzt lesen

  • Laut Artikel der Taz wurden im westschwedischen Göteborg Konsequenzen gezogen. Dort soll das bisherige Einstreumaterial umweltfreundlich durch solches auf Basis von Kork oder Kokosnussschalen ersetzt werden.
  • Der norwegische Fußballverband NFF empfiehlt, beispielsweise, die Kunstrasenplätze ständig zu fegen, das Granulat einzusammeln, sicher zu deponieren und nach Reinigung wiederzuverwenden. Regelmäßiges Ausbürsten des Rasens und speziell konstruierte Drainageanlagen verringerten ebenfalls die Gefahr einer unkontrollierten Ausbreitung von Mikroplastik.