
© Christiane Hildebrand-Stubbe
Verlierer der Pandemie sind auch in Stadtlohn Kinder und Jugendliche
Corona-Pandemie
Als Alessia gerade 16 war, zerplatzte mit dem ersten Lockdown ihr Traum von einem Leben mit mehr Freiheiten. Bei Familie und Freunden fand sie Halt. Das Glück haben nicht alle Jugendlichen.
Eigentlich hatte sich die 16-jährige Alessia Bone aus Stadtlohn auf Partys, Festivals und Konzerte gefreut. Doch dann kam Corona. Im „Jump in“, Schülercafé des Stadtlohner Jugendwerks, erzählen sie und Realschüler Michael Haggie (15) von ihrem Leben mit der Pandemie. Und von der verlorenen Zeit. Alles begann vor fast zwei Jahren. Zwei Jahre, in denen sich auch die Welt der heute 18-jährigen Gymnasiastin völlig verdreht hat.
Zwei Jahre, in denen sie nicht nur neue Begriffe wie Pandemie, Inzidenz, Distanz-Unterricht, Lockdown und viele andere „lernen“ musste, sondern auch mit deren Folgen für ihr eigenes Leben zu tun hatte. Eingeschränkte Kontakte und Freizeitmöglichkeiten, digitales Lernen, Wegfall der Freizeit-Angebote, Einschränkung der Bewegungsmöglichkeiten – eben völliges Neuland. Das kam ihr zuerst „echt surreal“ vor, das Mehr an freier Zeit aber auch irgendwie „cool“.
Und dann kam die Ernüchterung
Nach und nach aber spürte sie die Defizite. Auch intensive Kontakte über soziale Netze, selbst Zoom-Karnevalsfeiern waren eben doch kein echter Ersatz: „Es fehlte einfach die Nähe. Auch deswegen habe sie schon häufiger mal schlechte Stimmung gehabt, sei sogar „ein bisschen wütend“ gewesen. Auch auf die Politik „wegen des ewigen Hin und Her“ und den Versprechungen, die dann doch nicht gehalten wurden.
So richtig deprimiert habe die Pandemie sie aber nicht gemacht. Große Unterstützung habe sie von ihren Eltern bekommen, die immer wieder neue Angebote gemacht hätten, um ja keine Monotonie aufkommen zu lassen. Und: „Wir haben ein großes Haus und einen großen Garten, da ist vieles einfacher.“
Ähnlich „beschützt“ vom familiären Umfeld sieht sich auch Michael Haggie (15), Schülersprecher der Herta-Lebenstein-Realschule. Das größte Problem für ihn am Anfang der Pandemie? „Zuerst fand ich es cool, ständig ausschlafen zu können, aber dann merkte ich, dass mir die Zeit entglitt.“
Also sorgte er selbst für eine klare Tagesstruktur: „Ich stellte einen strikten Plan auf, welche Aufgaben zu welcher Zeit erledigt werden sollten.“ Immer wieder aber habe er sich auf die Suche nach Kontakten gemacht: „Ich habe mich, wenn es möglich war, mit Freuden getroffen, ganz viel geredet, geschrieben, gefacetimt.“ Und zwischendurch habe er „einfach die Schnauze voll gehabt“, habe gewollt, „dass es endlich vorbei ist“.

Team-Gespräch im Schülercafé unter Corona-Bedingungen: (v.l.) Joke Schnieder, Svenja Rawert und Birte Wellkamp, Sozialarbeiterinnen des Jugendwerks.
Dass das tatsächlich schon bald der Fall sein könnte, glauben er und Alessia angesichts der aktuell explodierenden Infektionszahlen aber nicht. Beide gehen davon aus, dass es wieder einen Lockdown und auch Schulschließungen geben wird. Alessia vermutet aber, dass sie und ihre Abitur-Klasse weniger betroffen sein werden. Dennoch sagen beide Jugendlichen, dass Corona bei ihnen keine Spuren bei Körper und Seele ausgelöst habe. Die beiden haben Glück gehabt, dass sie in einem in jeder Beziehung intakten Umfeld aufwachsen. Anders als so manche andere Kinder und Jugendlichen in Stadtlohn, wie auch die Mitarbeiterinnen des Jugendwerks erfahren.
Corona deckt die Probleme nur auf
Joke Schnieder (Aufsuchende Jugendarbeit) hat neben ihrer Arbeit als Sozialarbeiterin im Rahmen ihres Studiums an der Saxion Hochschule in Enschede den Folgen der Pandemie für Kinder und Jugendliche genauer untersucht. Der Titel ihrer Arbeit deckt sich mit ihren professionellen Praxis-Erfahrungen: „Generation Lockdown – Kinder und Jugendliche – Verlierer der Pandemie“.
Insbesondere für die jungen Menschen aus sozio-ökonomisch schlechter gestellten Familien, aus prekären Lebensbedingungen, seien die Folgen gravierend und die Langzeit-Auswirkungen noch gar nicht absehbar: von Lerndefiziten, Entwicklungsstörungen bis hin zu Verhaltens-Auffälligkeiten und psychischen Störungen ist die Rede.
Diesem „Befund“ schließen sich auch die Kolleginnen Birte Wellkamp (Leiterin Jump in) und Svenja Rawert (Schulsozialarbeiterin) an. Allerdings auch diesem: Das Corona-Virus ist nicht Auslöser der Probleme, sondern wirkt wie ein Verstärker, wie ein Brennglas. Und wenn es auch vor Corona schon schwierig gewesen sei, zu manchen Familien Kontakt herzustellen, sei das durch die Pandemie nur verschärft worden. „Erst recht, wenn noch sprachliche Defizite hinzukommen“, sagt Svenja Rawert, die als Sozialarbeiterin an den beiden Grundschulen während der Pandemie auch Hausbesuche unternommen hat.
Zwar seien auch Angebote des Jugendwerks durch Corona zwischenzeitlich stark eingeschränkt gewesen, „erreichbar waren wir aber immer“, sagt Birte Wellkamp.
Bei echten Problemen habe es sogar analoge Treffen mit den Betroffenen gegeben. Birte Wellkamp: „Draußen natürlich.“ Bei schwerwiegenden psychischen Auffälligkeiten sehen alle drei aber auch ihre Grenzen: „Wir sind keine Therapeutinnen.“ Erste Ansprechpartner seien immer die Eltern, denen man bei Bedarf Tipps und Adressen von Beratungsstellen, Fachärzten, Psychologen und anderen Experten an die Hand geben könne.
Verlust von „Basics“ des Alltags
Neben durch Corona gewachsenen psychischen Störungen haben die Sozialarbeiterinnen den zunehmenden Verlust von Alltags-Kompetenzen festgestellt: „Manche Schüler können nicht mal eine Schleife binden.“ Birte Wellkamp und ihre Kolleginnen ist daher klar, dass die Krise auch die professionell in der Kinder- und Jugendarbeit Beschäftigten vor weitere große Herausforderungen stellt.
Ein Auftrag, für den sie sich künftig die deutliche Unterstützung der Politik erhoffen, hoffen, dass vor allem die Kinder und Jugendliche mehr Gehör bekommen, es eine Lobby für sie gibt. Und auch die beiden Jugendlichen hoffen auf die politischen Entscheidungsträger – vor allem darauf, dass sie keine falschen Hoffnungen mehr machen.

Jochen Wilsmann, Leiter des Geschwister-Scholl-Gymnasiums, hat festgestellt, dass viele Schüler zurückhaltender sind als vor Corona. © privat
Jochen Wilsmann, Leiter des Geschwister-Scholl-Gymnasiums, hat festgestellt: „Die Stimmungslage bei den Schülern hat sich schon verändert, viele sind zurückhaltender als vor Corona.“ Echte psychische Probleme seien aber eher Einzelfälle. Der Pädagoge hat auch Verständnis für die Schüler, die durch Corona eine ganz andere Welt erlebt hätten: „Die direkten sozialen Kontakte sind weggebrochen, vieles ist einfach online gelaufen.“ Probleme wie das ohnehin bekannte Phänomen der „Schulabstinenz“, also des Fernbleibens vom Unterricht, habe Corona aber nur verstärkt.
Auch ganz unabhängig von dem Virus gebe es nämlich auch am Gymnasium Schüler mit gewissen Auffälligkeiten. Am nächsten dran seien da die Klassenlehrer und in der SEK II die Fachlehrer, für die die Eltern die Erst-Ansprechpartner seien. Außerdem arbeite man eng mit der Schulberatungsstelle des Kreises und dem Jugendwerk zusammen. Erfreulich sei, dass die Schulsozialarbeiter-Stelle gerade aufgestockt wurde. Ab Januar eine ganze Stelle jeweils an Gymnasium und Realschule.
Es gibt auch Gewinner der Pandemie
Dr. Sascha Borchers, Leiter der Schulberatungsstelle Kreis Borken, hat es nach den Herbstferien verstärkt mit Anrufen besorgter Eltern zu tun. Großes Thema: Schulabsentismus, hohe Fehlzeiten. Er spricht von einem hohen Druck, von Unsicherheit bei Eltern und Kindern durch die Pandemie. Allerdings teilt auch er die Einschätzung: „Corona deckt die Probleme nur auf, wirkt verstärkend.“
Den Eltern rät er, nicht zu viel zusätzlichen Druck auszuüben, immer wieder durch Gespräche Nähe zu den Kindern herzustellen. Und auch ruhig die eigene Unsicherheit zuzugeben.
Überraschend ist diese Feststellung: „Es gibt auch Gewinner der Pandemie, Kinder, die entspannter Lernrückstände aufarbeiten können.“ Übrigens eine These, die auch Joke Schnieder vertritt: „Gerade junge Menschen, die an psychischen Erkrankungen wie Depressionen oder sozialen Phobien leiden, fühlen sich entlastet, weil sie alltägliche Stressmomente nicht erfahren müssen.“
Seit über 30 Jahren dem Medienhaus treu verbunden geblieben, zunächst in Steinfurt und jetzt in Ahaus. Hegt eine Leidenschaft für gute Geschichten, Menschen und ihre Schicksale.
