Stadtlohnerin half neun Jahre Kindern in Namibia
Sandra Hollweg ist zurück
Neun Jahre ihres Lebens hat sich Sandra Hollweg für Kinder mit Behinderung in Namibia engagiert. Was mit einem ersten Praktikum begann, entwickelte sich zu einem Zentrum für Frühförderung. Schließlich fiel jedoch ihr Beschluss, nach Deutschland zurückzukehren. Im Rückblick auf ihre Zeit in Afrika nennt sie ihre Beweggründe dafür.

Sandra Hollweg im Side-by-Side-Zentrum in Katutura Foto: privat
33 Grad. So heiß ist es an diesem Tag an jenem 8351 Kilometer Luftlinie entfernten Ort, um den sich die Gedanken drehen im Gespräch mit Sandra Hollweg. In Stadtlohn schafft es das Thermometer an diesem grauverhangenen Tag nicht einmal in den zweistelligen Bereich. Sandra Hollweg ist wieder daheim. Ihr Zuhause war für knapp neun Jahre lang Namibia, war der Platz, an dem sie dort mit ihrem Mann und ihren beiden Kindern lebte, war das Zentrum, in dem Sandra Hollweg Kindern mit Behinderung eine Chance gab, sich zu entwickeln.
Sandra Hollweg sagt „Wir“, wenn sie davon spricht, was in dem kleinen Zentrum zur Frühförderung gerade passiert. Aber es geschieht ohne die Stadtlohnerin. Sie hat sich aus Namibia verabschiedet – ein Schritt, der ihr nicht leicht gefallen ist und zu dem es für Sandra Hollweg am Ende aber keine Alternative gab.
Lebensaufgabe
Rückblende: Im Jahr 2005 war die Stadtlohnerin zum ersten Mal nach Namibia aufgebrochen. Was als Praktikum begann, sollte sich zu etwas entwickeln, das ihr für Jahre zur Lebensaufgabe wurde. Ohne Unterstützung, vielfach sich selbst überlassen, in schwierigsten Verhältnissen lebend: Viele Kinder mit Behinderung hatten und haben in Namibia oft keine Chance, eine angemessene Förderung zu erfahren. Das ließ die Kinderkrankenschwester und Heilpädagogin nicht unberührt. Sie brach wieder auf in die Region Windhuk.
Zwei Jahre wollte sie dort bleiben – rund neun sind es geworden. Eine Zeit, die ihr Leben in jeder Hinsicht prägen und verändern sollte. Sie arbeitete in den ersten Jahren für die Organisation Special Needs Network. Die „Early Intervention“ bestimmte schon da ihren Arbeitsalltag: die Frühförderung. Unzählige Hausbesuche führten sie in die 31 von ihr betreuten Familien und konfrontierten Sandra Hollweg mit der sozialen Realität in dem Land, von dem deutsche Touristen meist nur die attraktiven Seiten kennenlernen.
Berichte berührten
Sandra Hollweg wollte, dass die Menschen in ihrer Heimat Deutschland etwas darüber erfahren. Sie schrieb viele Berichte, in denen sie ihre Erfahrungen festhielt, über Trainings für Eltern, organisatorische Hürden und nicht zuletzt immer wieder über die Kinder – über schöne Erfolge mit ihnen ebenso wie über tragische Verluste. Das rief auch im fernen Deutschland ein Echo hervor: Schnell fanden erste Spenden den Weg, aus denen sich über die Jahre ein stabiler Strom entwickeln sollte.
Das Jahr 2013 brachte Sandra Hollweg einen neuen Ansatz in ihrer Arbeit: Sie gründete in Katutura ein eigenes kleines Zentrum, um damit Kinder gezielter und nachhaltiger fördern zu können, getragen von einem dazu gegründeten kleinen Verein. Ein Traum, der für die Stadtlohnerin wahr wurde: das „Side by Side Early Intervention Centre“. Über die Jahre entwickelte sich dieses Zentrum weiter, Mitarbeiterinnen verstärkten das Team, bauliche Erweiterungen brachten neue Möglichkeiten. Ein gutes Dutzend Kinder kommt täglich ins Zentrum, um die 15 Familien nutzen darüber hinaus die wöchentliche Frühförderung, und auch das Einbeziehen der Eltern hat seinen Platz in diesem Konzept.
Die Reißleine gezogen
Ein gewachsenes Projekt, dessen Arbeit sich immer besser einspielte. Und doch kam der Punkt, an dem Sandra Hollweg sich entschloss, die Reißleine zu ziehen und Namibia zu verlassen. Warum? Sie blickt einen Moment lang aus dem Wohnzimmerfenster ihres Stadtlohner Elternhauses in Richtung Berkel. Eine so ganz andere Landschaft und ein ganz anders Licht als auf dem afrikanischen Kontinent. Sandra Hollweg ist mit sich im Reinen, auch wenn der Entschluss zu gehen schwer war.
Den Anstoß dazu gab ihr letzten Endes wohl der Staat Namibia. Es hatte sie zunächst nur unangenehm überrascht, dass sie plötzlich nur noch ein „nicht erneuerbares“ Visum erhalten hatte. Die Nachfrage bei den Behörden schockierte sie. Denn die Botschaft sei unmissverständlich ausgefallen: Sie solle nach Hause gehen in ihr eigenes Land und dessen Probleme lösen.
Der Staat ließ sie abblitzen
So begann ein Countdown. Sandra Hollweg bemühte sich darum, ihn zu stoppen. Danach sah es allerdings lange nicht aus. Und ihre Frustration sollte noch weiter wachsen. Denn als es um die formelle Anerkennung des Early Intervention Centers ging, ließ der Staat sie schlichtweg abblitzen – weil sie keinen namibischen Pass besaß. „Für die Behörden gibt es diese Kinder nicht“, sagt sie, und in diesem Satz schwingen Bitterkeit und Wut mit: „Es fühlte sich so willkürlich an.“
Für Sandra Hollweg stellte sich in dieser Situation auch die Frage nach ihrer privaten Zukunft. Ihre Kinder sind heute drei und sechs Jahre alt, ihr Aufwachsen spielte bei ihren Überlegungen auch eine wichtige Rolle. Zudem wuchs in Sandra Hollweg der Wunsch, sich beruflich neu zu orientieren und fachlich weiterzubilden. Gleichzeitig hatte sie die ganze Zeit über den Ablauf ihres Visums vor Augen. All das kam zusammen und ließen in der Stadtlohnerin den Entschluss reifen, mit Mann und Kindern wieder nach Deutschland gehen zu wollen.
Weichen noch gestellt
Es blieb dabei. Auch als drei Tage vor dem Ablaufen der Visumsfrist doch noch eine Verlängerung um zwei Jahre kam. Immerhin: Das war ein glücklicher Umstand für das Projekt. „Es wäre sonst eine Katastrophe gewesen.“ So blieb Zeit, um die Weichen für eine tragfähige Zukunft zu stellen. Sandra Hollweg hatte ihre Fühler ausgestreckt in Richtung Förderschulen. Aber als staatliche Schulen hatten sie nicht die Möglichkeit, eine weitergehende Kooperation mit dem privaten Projekt einzugehen. Doch dort machte man sie auf Huipie van Wyk aufmerksam.
Die junge Frau ist selbst Mutter einer schwer mehrfach behinderten Tochter. Sie betreute Familien, in denen Kinder mit Behinderung leben. „Da stand allerdings die finanzielle Unterstützung im Vordergrund“, berichtet Sandra Hollweg: Geld, um Windeln, Nahrung und Medikamente kaufen zu können. „Ich kannte ihr Konzept. Aber da war ich zunächst zurückhaltend.“ Denn der Stadtlohnerin hatte sich eine Erfahrung ihrer ersten Jahre in Namibia besonders stark eingeprägt: Nur die Hilfe zur Selbsthilfe bringe echte Erfolge. Schließlich nahm sie Kontakt mit Huipie van Wyk auf – und staunte: „Es war immer ihr Wunsch gewesen, ein Zentrum wie dieses aufzubauen.“
Ein Zurück vom Entschluss gab es nicht mehr
So blieb Sandra Hollweg eine Zeit von etwas mehr als einem Vierteljahr, um ihre Nachfolgerin einzuarbeiten. Wenn sie über die kommenden Vorhaben berichtet, über Pläne und Aktivitäten, wird klar: Sie hat ihr Feld offensichtlich gut bestellt hinterlassen. Ein Zurück gab es für sie nun nicht mehr: Im Dezember bestieg sie mit ihren Kindern den Flieger in die Heimat. Zuvor hatte es in Katutura noch eine Abschiedsfeier mit bewegenden Momenten für sie gegeben. Dem Projekt will sie weiter verbunden bleiben, auch über die Entfernung hinweg beratend dafür da sein.
Es scheint fast zu früh, die Frage nach einer Bilanz zu stellen. Sandra Hollweg denkt darüber nach und erklärt dann, warum sie schließlich positiv ausfällt. Mit Blick auf die Heimat waren da über all die Jahre die vielen Unterstützer, die vieles erst möglich gemacht haben: Schulen und Firmen, Institutionen und Einzelpersonen, Vereine und Stammtische und nicht zuletzt ihre Eltern Angelika und Hans-Gerd Hollweg. Und Sandra Hollwegs Bilanz fällt positiv aus angesichts derer, für die all dieses Engagement eine humanitäre Brücke schlug nach Namibia: die Kinder.
Die Brückenbauerin ist gegangen. Aber die Brücke selbst steht.