Überraschung im Selm: Rat vertagt Beschluss über Haushalt 2023 „Wollen keinen Blanko-Scheck ausstellen“

Rat verschiebt Haushalt: „Wollen keinen Blanko-Scheck ausstellen“
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Die Ratssitzung am Donnerstagabend (9. 2.) war gerade unterbrochen, als ein Verwaltungsmitarbeiter die Tür zum Saal des Bürgerhauses aufstößt und eine Sackkarre hineinrollt. Auf der Transportfläche: eine Wahlurne. Jetzt wird auch den letzten der 32 Ratsmitglieder und 20 Zuschauer klar, dass diese Ratssitzung anders verlaufen könnte als geplant. Statt der Haushaltsverabschiedung droht die Ablehnung des Etats 2023, zumindest wenn alle Fraktionen geschlossen so stimmten, wie angekündigt. Eine geheime Abstimmung könnte es Abweichlern leicht machen. Aber so weit kommt es nicht.

Fünf Minuten, nachdem die Urne vorne am Rand der Theaterbühne - da, wo Bürgermeister Thomas Orlowski und sein Verwaltungsteam sitzen - Aufstellung genommen hat, steht fest: Eine Abstimmung über den Etat 2023 wird es an diesem Abend nicht geben, weder per Handzeichen, noch per Stimmkarte. Eine mögliche Wahlniederlage für den Bürgermeister und seine SPD damit auch nicht. Thomas Orlowski war der Empfehlung von Werner Sell gefolgt. Sein ehemaliger Fraktionskollege hatte den Ratschlag gegeben, „doch die Entscheidung zu verschieben“ und später zu einer Sonderratssitzung zum selben Thema einzuladen. „Später“ heißt: nachdem die interfraktionelle Arbeitsgruppe zur Überprüfung von Investitionen ihre Arbeit aufgenommen und zwei-, dreimal getagt hat.

Alles andere sei die falsche Reihenfolge, war zuvor gleich mehrfach zu hören gewesen.“ Bürgermeister Orlowski hatte in der Haupt- und Finanzausschusssitzung vorgeschlagen, dass am 6. März eine interfraktionelle Kommission zusammentritt, um gemeinsam nach Sparmaßnahmen zu suchen. CDU-Fraktionsvorsitzende Claudia Mors sagte, darüber „nur müde lächeln“ zu können: „Die Kommission hätte lange im Vorfeld der Haushaltsaufstellung tagen müssen. „Nur Makulatur“ nannte Ralf Piekenbrock (Familienpartei) den Vorschlag. Von der „falschen Schrittfolge“ sprach Joachim Andrös (FDP). Den Haushalt zu beschließen, ohne zuvor über Spaßmaßnahmen diskutiert zu haben, hieße „einen Blanko-Scheck“ auszufüllen. Ausgaben mit Sperrvermerken zu versehen, wie es Orlowski vorgeschlagen hatte, reichte weder ihm noch anderen aus.

Ohnehin: Dass der Bürgermeister erst so spät das Gespräch über Fraktionsgrenzen hinweg suchte, kam bei den Politikerinnen und Politikern nicht gut an. „Warum haben wir uns nicht längst zusammengesetzt?“, fragte Michael Zolda (CDU). Mit solchen informellen Gesprächsrunden in schwierigen Fragen habe die Selmer Politik in der Vergangenheit stets gute Erfahrungen gemacht, stimmte Wolfgang Jeske („Gemeinsam für Selm“) zu: „Gemeinsam und miteinander und nicht einsam und allein, Herr Bürgermeister.“

Luftbuchungen per Gesetz

Dabei war es Orlowski selbst, der ursprünglich eine ganz andere Richtung vorgegeben hatte: Bei der Kommunal- und Bürgermeisterwahl im September 2020 hatte er damit geworben, im Fall seiner Wahl ein Team zusammenstellen zu wollen, das langfristig nach Auswegen aus der hohen Verschuldung der Stadt suchen solle. Daraus wurde bislang nichts. Die finanzielle Lage wurde indes immer prekärer.

Zwar gibt es 2023 sogar einen Jahresüberschuss von 313.068 Euro im Ergebnisplan. Den kann sich die Stadt aber nur mit einem tiefen Schluck aus der Krisen-Pulle erkaufen. Genauer: Nur mit Hilfe des NKF-Covid-19-Ukraine-Isolierungsgesetzes des Landes NRW, kurz NKF-CUIG. Im Ergebnisplan, der alle Erträge und Aufwendungen der Stadt im Haushaltsjahr gegenüberstellt, sollen mehr als 91,2 Millionen Euro Erträge den kleinen Überschuss bescheren. Allerdings sind dabei mehr als 7,2 Millionen Erträge als reine Luftbuchungen veranschlagt.

Das NKF-CUIG, erlaubt es, Mindererträge und Mehraufwendungen durch Pandemie und Krieg den Erträgen des Ergebnisplans hinzuzurechnen und ab 2026 über 50 Jahre abzuschreiben. Ein Verfahren, das der Rat einhellig kritisierte als „alles andere als generationengerecht“ (Jürgen Walter, SPD), „megamäßige Belastung für die Generationen der nächsten 50 Jahre“ (Claudia Mors, CDU) und „möglicherweise nicht verfassungskonform“ (Ralf Piekenbrock, Familie).

Ein Blick in den Finanzplan verdeutlicht die prekäre Lage. Mit einem Fehlbetrag in Höhe von 12,16 Millionen Euro soll der Finanzplan das Haushaltsjahr 2023 abschließen. Eine Summe, die auch gleichzeitig die Nettoneuverschuldung abbildet. Damit würde die Gesamtverschuldung Selms am Jahresende auf über 114 Millionen Euro steigen. Knapp 69 Millionen Euro entfallen dabei auf die Investitionskredite, mehr als 45 Millionen Euro auf die Liquiditätskredite, längst noch nicht das Ende der Fahnenstange: Ende 2026 wird die Stadt auf einem Schuldenberg von knapp 147 Millionen Euro sitzen.

Forderung nach Schuldenschnitt

Die Sparkommission, die im laufenden Monat Februar erstmals zusammenkommen will, will die Situation verbessern. „Wer aber ernsthaft glaubt. wir könnten diesen riesigen Schuldenberg abbauen, der glaubt auch, dass Zitronenfalter Zitronen falten“, sagte Dr. Hubert Seier (UWG). „Wir brauchen einen Altschuldenerlass“, so Jürgen Walter (SPD). Etwas anderes brauche Selm keineswegs: Steuererhöhungen. Dagegen haben sich alle sieben politischen Gruppen im Rat ausgesprochen.

Bis der Rat den Haushalt im zweiten Anlauf verabschiedet, wird sich Selm mit neuen Investitionen zurückhalten müssen. Laufende Projekte wie die Bauarbeiten an der Dreifachhalle und an der Burg Botzlar (die Projekte werden jeweils eine Million Euro teurer) sind davon aber ausgenommen.

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