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„Tiefstes Mittelalter“ im Kreis Unna: Krähen an den Füßen aufgehängt
Tierschutz-Skandal
Das Foto ist verstörend: Auf einem Acker stehen Stäbe, an denen Krähen baumeln. Von Tierquälerei spricht der Kreis Unna. Von „tiefstem Mittelalter“ einer der bekanntesten Zoologen Deutschlands.
Der hölzerne Pfahl ragt etwa einen Meter aus dem Acker heraus. Oben hängt etwas Schwarzes. Beim näheren Hinschauen entpuppt es sich als ein toter Vogel: - an den Füßen aufgehängt. Die leblosen Flügel sind ausgebreitet, der Kopf baumelt unten: nur eine von mehreren aufgehängten Krähe auf dem Spargelfeld. Als Prof. Josef Reichholf das Foto aus dem Kreis Unna sieht, erschrickt er. Nicht, weil er so etwas noch nie gesehen hätte, „sondern weil ich es in einem so modernen Land wie Nordrhein-Westfalen nicht mehr erwartet hätte“. Für einen der bekanntesten und streitbarsten Zoologen Deutschlands ist dieser barbarische Umgang mit den intelligentesten aller Vögel „tiefstes Mittelalter“.
Die zur Schau gestellten toten Krähen sollen ihre Artgenossen vergrämen und sie auffordern, einen weiten Bogen um den aufgeknüpften Kumpel und das Feld zu machen. „Das ist absoluter Quatsch“, sagt der Zoologe, Evolutionsbiologe und Ökologe, der bis 2010 Professor für Ökologie und Naturschutz an der TU München war und mit Bernhard Grzimek und Horst Stern zu den Gründungsvätern des heutigen Bundes für Umwelt und Naturschutz Deutschland (BUND) gehört. Er sei „schockiert, dass in unserer so aufgeklärten Zeit immer noch so viel Unwissen existiert“, sagt er.
„Aufhängen von toten Krähen hat keinerlei Effekt“
Dass das Aufhängen von Krähen „keinerlei Effekt“ habe auf die intelligenten Vögel, „weiß man seit Langem“. Das hartnäckige Festhalten an der grausamen Praxis sage „mehr aus über die Angst der Menschen als der Krähen“. Und die sei tatsächlich fest mit dem Mittelalter verwurzelt.

Forschungsprojekt widmen sich den Krähen, die als die Intelligentesten Vögel gelten. © picture alliance/dpa/TIERGARTEN SCHÖNBRUNN
Damals habe sich in der Volksmeinung die tiefe Abneigung gegen die in früheren Zeiten als weise gerühmten schwarzen Vögel verfestigt. Genauso wie schwarze Katzen gelten sie seitdem als Boten des Bösen: Unglücksvögel, Totenvögel, Künder von düsteren Schicksalsschlägen. Die Symbolik ist jedem bekannt. Alfred Hitchcock konnte in seinem Klassiker „Die Vögel“ darauf zurückgreifen, ohne das begründen zu müssen. Während die meisten Menschen diese von Generation zu Generation weitergegebenen Vorbehalte eher unbewusst haben, leben manche sie offen aus. Wie der Bauer aus dem nördlichen Kreis Unna.
Warum die Adresse nicht öffentlich gemacht wird
Wer ist es? Der Redaktion liegt das gesamte Bildmaterial vor, das ein Leser bereits im Juni gemacht hatte. Einwandfrei ist dort der Hof im Nordkreis zu identifizieren. Adresse und Name sind bekannt. Der Leser möchte diese Informationen aber nicht veröffentlicht sehen, weil er dadurch einen wirtschaftlichen Schaden für den Spargelhof vermutet. Er setze dagegen lieber auf Lernerfolg.
Max Rolke versteht diese Vorsicht nicht. Der Sprecher des Kreises Unna hätte gerne die Identität des Landwirts erfahren - für eine Strafverfolgung „dieser abscheulichen Sache“. Selbst wenn der betreffende Landwirt Jäger sei, handele es sich mindestens um eine Ordnungswidrigkeit. Denn das Foto entstand im Juni. Die Krähen müssen dafür außerhalb der Jagdsaison (1. August bis 10. März) getötet worden sein. Es könne aber auch wegen Tierquälerei ermittelt werden, meint Rolke. In jedem Fall handele es sich um einen Vorfall, „zu dem mir nichts Vergleichbares hier im Kreis bekannt ist“.

Der Evolutionsbiologe Prof. Dr. Josef Reichholf, einer der bekanntesten Zoologen Deutschlands, gilt als ausgewiesener Krähen-Fachmann. Er nimmt Stellung zu dem Foto aus dem Nordkreis des Kreises Unna. Reichholf hat für seine allgemeinverständlichen Beiträge zur Ökologie den Sigmund-Freud-Preis für wissenschaftliche Prosa erhalten. © picture alliance / Daniel Reinhardt/dpa
Mag sein, dass sich auch niemand bislang die Mühe gemacht habe, das grausame Vorgehen gegen die Vögel mit dem schlechten Leumund öffentlich zu machen, sagt Reichholf. Selbst in Naturschutzkreisen sei ihr Ruf nicht gut. „Da zählt die Intelligenz weniger als putziges Aussehen.“ Die Meise, die geschützte Insekten frisst, sei allemal besser angesehen als die Krähe, die sich auch mal über ein Singvogelnest hermache. „Logisch ist das nicht.“
Besondere Intelligenz der Krähen begeistert Wissenschaft
Vielleicht hat die seit Jahrhunderten gewachsene Abneigung auch damit zu tun, dass Menschen nur schwer akzeptieren mögen, dass ausgerechnet ein krächzender Vogel das in einem erstaunlichen Maß besitzt, auf das er besonders stolz ist: Intelligenz. Krähen können sich Gesichter merken, sind erfinderisch, sprachbegabt und nutzen Werkzeuge. Mehrere Forschungsprojekte - unter anderem von der Universität Lund in Schweden - zeigen, dass Krähen sogar vorausschauend ihre Zukunft planen: etwas, das bislang nur bei Menschenaffen gefunden wurde. Der Ende September 2020 veröffentlichte Bericht einer Tübinger Forschungsgruppe brachte noch mehr Krähen-Intelligenz zu Tage.
Durch Messung von Hirnsignalen war ihr erstmals der neurowissenschaftliche Nachweis gelungen, dass Rabenvögel über subjektives Erleben verfügen. Die Gruppe um Professor Andreas Nieder zeigte, dass Krähen dazu fähig sind, Sinneseindrücke bewusst wahrzunehmen: auch etwas, das bislang dem Menschen und seinen nächsten Verwandten vorbehalten zu sein schien.
Krähenjagd mit wachsendem Eifer
Josef Reichholf, Autor des 2011 veröffentlichten Buches „Rabenschwarze Intelligenz“, bringt es auf den Punkt: „Rabenvögel sind uns ähnlicher als vielen lieb ist.“ Sie suchten die Nähe des Menschen, könnten aber zugleich leicht unterscheiden, „zwischen aus ihrer Sicht guten und bösen Menschen, also solchen, von denen sie nichts zu befürchten haben und solchen, bei denen sie auf der Hut sein müssen“: Jägerinnen und Jäger zum Beispiel.

Dieser Rabenvogel ist nicht rabenschwarz, sondern schwarz-weiß: die Elster. Einen guten Ruf genießt aber auch sie nicht, da sich das Vorurteil hartnäckig hält, sie sei diebisch. © picture alliance/dpa/dpa-Zentralbild
In NRW haben sie in der Jagdsaison 2018/19 - das sind die aktuellsten Zahlen, die das Umweltministerium zur Verfügung stellt - 101.008 zur Strecke gebracht: 2020 Vögel mehr als im Vorjahr. Krähenjagd gilt als „reizvoll“, wie in den sozialen Medien aus Jagdkreisen immer wieder zu lesen ist. Der Einsatz von sogenannten Lockbildern und die Fähigkeit der Vögel, diese Tricks schnell zu durchschauen, stellen eine besondere Herausforderung dar.
Dabei ist seit 1979 die Vogeljagd in der Europäischen Union eigentlich grundsätzlich verboten. Die EU-Vogelschutzrichtlinie hatte damals alle in Europa wild lebenden Vogelarten zum „gemeinsamen Erbe“ erklärt und unterstellt sie einer „gemeinsamen Verantwortung“. Längst gibt es aber auch Ausnahmen von dem Verbot.
Landwirte und Jagdverband klagen über Schäden
Mit gutem Grund, wie Landwirte sagen. Sie klagen bundesweit über herausgezogene Keimlinge, Saatgutfraß und angepickte Früchte und Folien, wie auf dem Spargelfeld im Kreis Unna. Der Landesjagdverband findet noch andere Argumente: „Wer seinem Niederwild, aber auch dem Kiebitz und anderen Bodenbrütern wirklich helfen will, kümmert sich intensiv um die Rabenkrähen in seinem Revier.“

Zwei Krähen zanken sich um ein Stück Futter, das eine Krähe fest im Schnabel hält. © picture alliance/dpa
Für dieses „Kümmern“ haben die Jägerinnen und Jäger in NRW durch das seit 2019 geltende Jagdgesetz mehr Gelegenheit bekommen. Seitdem ist Jagdzeit für Rabenkrähen bis zum Beginn der Nistzeit und des Nestbaus, also bis Anfang März, ausgedehnt worden. Die „Lockjagd auf Krähen auch mit Tauben- oder Krähenkarussel“ ist ebenfalls erlaubt- aber nur, wenn es sich um Plastikattrappen handelt und nicht um echte Vögel wie auf dem Spargelfeld im Kreis Unna.
Reichholf: „Die Jagd ist kontraproduktiv“
Egal, mit welchen Methoden: Josef Reichholf hält die Krähenjagd nicht nur für unsinnig - „dass der Kiebitz und andere Bodenbrüter vom Aussterben bedroht sind, hat mit der industrialisierten Landwirtschaft zu tun, und nicht mit den Krähen“-, sondern geradezu für kontraproduktiv: „Die Bestände der Raben- und Nebelkrähen sind seit Jahren konstant.“ Die Bejagung führe zu einer verstärkten Bruttätigkeit „und damit genau das Gegenteil von dem, was sie bewirken soll“.
Leiterin des Medienhauses Lünen Wer die Welt begreifen will, muss vor der Haustür anfangen. Darum liebe ich Lokaljournalismus. Ich freue mich jeden Tag über neue Geschichten, neue Begegnungen, neue Debatten – und neue Aha-Effekte für Sie und für mich. Und ich freue mich über Themenvorschläge für Lünen, Selm, Olfen und Nordkirchen.
