„Verwischte Spuren“ heißt eine neue Homepage, die auf jüdisches Leben in Selm, Werne und Lünen blickt. Sie lädt Interessierte ein zu einem virtuellen (oder ganz realen) Spaziergang.
Eric Schildkraut. Bertha Stern. Julius Salomon. Paul Levi. Lina Feldheim. Das sind Namen von Menschen, die vor gar nicht so langer Zeit in Selm, Lünen und Werne gelebt haben. Von ihnen zeugt auf den ersten Blick nicht mehr so viel in den Städten an der Lippe: Es gibt keine Kinder, Enkelkinder oder Urenkel, die den Namen weitergetragen haben, keine Nachfahren, die hier ihren Lebensmittelpunkt haben, die hier arbeiten oder auf den Spielplätzen spielen. Die Spuren von Eric Schildkraut, Bertha Stein, Julius Salomon, Paul Levi und Lina Feldheim haben sich verwischt. Weil sie Juden waren.
Weil sie Juden waren und weil sie in einer Zeit in Deutschland lebten, als das wegen des nationalsozialistischen Regimes an der Macht lebensgefährlich war. Eric Schildkraut, Bertha Stein, Julius Salomon, Paul Levi und Lina Feldheim sind nur wenige Namen von Menschen jüdischen Glaubens aus Werne, Lünen und Selm, die in der Zeit des Nationalsozialismus aus ihrer Heimat fliehen mussten, die ihr Hab und Gut verloren haben oder die im Konzentrationslager ermordet wurden.
Das Ehepaar Stern aus Bork
So wie das Ehepaar Stern zum Beispiel. Sie wohnten im Selmer Ortsteil Bork im Haus mit der Adresse Dorf 66 (später Hauptstraße 11), das mittlerweile nicht mehr steht. Dort, wo die Volksbank gerade einen großen neuen Gebäudekomplex eingeweiht hat, lebten in den 30er-Jahren Jakob und Bertha Stern. Sie betrieben eine Viehhandlung.
„In den überlieferten Dokumenten zeigen sich die Spuren der Repressalien, denen die Sterns ausgesetzt waren: Als Viehhändler wurden sie wie alle anderen jüdischen Gewerbetreibenden gelistet, damit man sie besser kontrollieren konnte“, steht auf der neuen Homepage „Verwischte Spuren“.
Bertha und Jakob Stern sollen, so schrieb es damals die Gestapo an das Finanzamt, eine Ausreise vorbereitet haben, wollten wohl alles verkaufen und aus Nazi-Deutschland fliehen.
Es ist ihnen nicht gelungen. Nachdem sie 1939 von Bork nach Odenkirchen in Mönchengladbach gezogen waren, wurden Jacob und Bertha Stern am 15. Juni 1942 in das Vernichtungslager Sobibor gebracht. Und dort ermordet. Kinder hatten die beiden nicht.
Spurensuche nach jüdischem Leben in Lünen, Werne und Selm
Damit Menschen wie sie trotz der wenigen Spuren, die von ihnen im Alltag heute noch zu finden sind, nicht in Vergessenheit geraten, haben die Bürgermeister-Harzer-Stiftung aus Lünen und die Stiftung der Sparkasse an der Lippe ein besonderes Projekt initiiert. „Verwischte Spuren“ ist es überschrieben.
Das ist - kurz erklärt - eine Homepage, die interessierte Menschen mitnimmt auf eine Spurensuche durch die Orte Lünen, Selm und Werne. Wo gab es hier jüdisches Leben? Was ist mit den Menschen passiert? Sind die jemals zurückgekehrt?
Zum Projekt „Verwischte Spuren Projekt“
- Finanziert wurde das Projekt „Verwischte Spuren“ von der Bürger- und Kulturstiftung der Sparkasse an der Lippe, der Stiftung der Sparkasse an der Lippe, der Auslandsgesellschaft Dortmund, der Bürgermeister-Harzer-Stiftung und dem Bauverein zu Lünen.
- Die virtuelle Stadtführung hat einen Umfang von circa 90 Minuten „und ist auch für den Schulunterricht geeignet“, heißt es auf der Homepage.
- Weitere Infos zum Projekt gibt es unter verwischte-spuren.de
Mit diesen Fragen hat sich nach dem Auftrag der Stiftungen Michael Kupczyk auseinandergesetzt. Er ist Regisseur, Autor und in Lünen bereits durch den Film „Die Kinder der Turnstunde“ aufgefallen, in dem er anhand einer Fotografie die Lebensläufe jüdischer Kinder im Nationalsozialismus nachspürt.
Für das Projekt „Verwischte Spuren“ hat Michael Kupczyk sich die Geschichtsmanufaktur zur Hilfe geholt: ein Bochumer Unternehmen, das sich mit der Aufarbeitung historischer Themen beschäftigt. Die Historikerinnen Christina Steuer und Dr. Katharina Hülscher haben sich an der Lippe auf die Spur nach jüdischem Leben begeben.
Herausgekommen ist eine Homepage, die für alle drei Orte virtuelle Spaziergänge anbietet - zu Orten, die auch heute noch spätestens auf den zweiten Blick von jüdischem Leben zeugen.
So wie die Stelle, an dem einstmals das Haus der Familie Stern stand. Oder die, an der 1938 noch der Schützenhof stand: an der Cappenberger Straße in Lünen. Am 9. November vor 80 Jahren hatten sich hier NSDAP-Mitglieder versammelt: zum Gedenken an „die Toten des 9. November 1923“, einem gescheiterten Putschversuch der NSDAP gegen die bayerische Landesregierung. In diese „Gedenkveranstaltung“ platzte die Nachricht von den Synagogen, die überall in Deutschland brannten. Angestachelt von dieser Nachricht brach sich die Pogromnacht auch in Lünen ihre Bahn.
Mann ertrank in der Lippe
Die Lüner Familien Elsoffer und Aronstein zum Beispiel, die auch auf der Cappenberger Straße lebten, jagten Parteitreue aus ihren Häusern, zwangen sie, zum Alten Markt zu gehen.
„Gegen drei Uhr nachts erschienen die beiden Parteifunktionäre Ernst Meckler und Heinrich Schmidt und trieben Aronstein und Elsoffer zur Lippe. Dort zwangen sie sie, in den eiskalten Fluss zu springen. Waldemar Elsoffer konnte sich nicht über Wasser halten und ertrank. Hermann Aronstein hingegen schwamm mehrfach hin und her, bis es ihm endlich gelang, ans Ufer zu klettern“, informiert die Homepage.
Der Sohn von Waldemar Elsoffer verließ Lünen, er konnte nach Großbritannien und von dort aus nach Australien fliehen. Die Familie Aronstein hingegen wurde ins Konzentrationslager gebracht. „Die Eltern starben in Auschwitz, zwei der drei Töchter wurden ebenfalls ermordet. Nur Tochter Inge überlebte.“
Videos, viele Bilder, Karten und ein Quiz
Geschichten wie diese vermittelt die Homepage sozusagen in kleinen Häppchen. Zu jeder der jeweils zwölf Stationen der einzelnen Städte gibt es Texte, es gibt viele Bilder und Videos, historische Dokumente, die Schauspieler eingesprochen haben, natürlich auch eine Karte, damit man sich beim Stadtrundgang gut orientieren kann.
„Es gibt zu dem ganzen auch ein Quiz“, erklärt Michael Kupczyk. Das, so erläutert er, soll das Projekt gerade für Schüler attraktiver machen. Mit dem Wissen, das der Spaziergang vermittelt, können die Mitmachenden bestimmte Fragen beantworten.
Eine Frage im Quiz zum Beispiel: Was passierte mit dem Geschäft der Familie Marcus in Werne? Neben dieser Frage findet sich ein Text, der erklärt, dass mit Äxten und Knüppeln bewaffnete Werner den Juden Leo Marcus in der Nacht des 9. November 1938 schwer misshandelten und demütigten. Seine Verletzungen waren so schwer, dass Ärzte ihm ein Auge operativ entfernen mussten.
Leo Marcus floh 1939 nach England. „Seine Mutter wurde nach Theresienstadt deportiert und dort ermordet. Seine Frau Anni und sein Sohn wurden nach Riga deportiert, Hans Gustav später für tot erklärt. Anni verstarb 1949 in der Psychiatrie“, schreiben die Historikerinnen über die Familie.
Leo Marcus lebte in der Bonenstraße in Werne
Teilnehmer der Stadtführung auf jüdischen Spuren in Werne stehen bei dieser Information in der Bonenstraße in Werne, wo Leo Marcus und seine Familie einst lebten.
Wo ihr ein Regime und eine Bevölkerung, die an es glaubte, vor rund 80 Jahren das Leben zur Hölle machte, ihnen Heimat, Hab, Gut und Leben stahl. Daran zu erinnern ist Ziel der „Verwischten Spuren“.
Dem Projekt gelingt es, den Opfern der Bürger des Deutschen Reichs, den Menschen aus Selm, Werne und Lünen, ein Gesicht zu geben. Oder besser: Der Mahnung ein Gesicht zu geben, dem Erinnern an die Verbrechen des Nationalsozialismus. Dem Unrecht, das den Juden damals geschehen ist. Bertha Stern, Eric Schildkraut, Julius Salomon, Paul Levi, Lina Feldheim. Und so, so, so viele mehr.
Ich mag Geschichten. Lieber als die historischen und fiktionalen sind mir dabei noch die aktuellen und echten. Deshalb bin ich seit 2009 im Lokaljournalismus zu Hause.
