
© Sylvia vom Hofe
Nalu und das Polymeer: Selmer Kinder machen Theater auf der Plastikinsel
Schülerprotest
Weltweit protestieren Kinder gegen Umweltzerstörung. Overbergschüler stehen auf der Bühne, um die Vermüllung des Meeres anzuprangern. Es geht ihnen aber nicht nur um Theater.
Keine guten Startbedingungen: Ein ganzer Schultag liegt schon hinter ihnen. Und eineinhalb Stunden Theaterprobe vor ihnen. Was jetzt hilft, um die Schauspieler munter zu machen, weiß Natalie Stefanski genau. Sie dreht die Musik lauter.
„Black horse and the cherry tree“ dröhnt aus den Lautsprechern: ein Hit aus dem Jahr 2005, als die Kinder, die jetzt ausgelassen im Obergeschoss der Overbergschule springen und tanzen, noch gar nicht geboren waren.
Zu groovigen Gitarrenriffs singt eine lässige, selbstbewusste Frauenstimme: „But I said no, no, no, no, no, no.“ Einige Kinder fallen in den Refrain ein: „No, no, no.“ Das ist die Art der elf Mädchen und des einen Jungen, Ja zu sagen: zu einem Theaterprojekt, wie es so eines in Selm noch nicht gegeben hat.
Verblüffung über die Zusage des Ministeriums hält an
Von einer langen Wartezeit war Natalie Stefanski ausgegangen, als sie sich 2018 mit ihrem Projekt beim Land NRW beworben hatte, von Absagen und harter Überzeugungsarbeit. „Dabei bekam ich auf Anhieb eine Zusage“, sagt sie, und noch immer schwingt freudige Verwunderung in ihrer Stimme mit.
Die theaterpädagogische Projektarbeit „Nalu und das Polymeer“ hat sich gleich durchgesetzt bei den Entscheidern, die die Mittel aus dem Fördertopf „Kultur und Schule“ vergeben. Ein Kompliment für das Konzept, das die frisch gebackene Theaterpädagogin und Mutter von drei Kindern erarbeitet hat. Dabei ist sie alles andere als ein alter Hase auf den Brettern, die die Welt bedeuten. Und die die Welt auch verändern können, wie sie hofft.
Szenen gefrieren in Standbildern
Die Musik bricht ab. Von einem Moment zum anderen ist es mucksmäuschenstill in dem großen Schulraum. Nur Natalie Stefanskis Stimme ist zu hören: „Ihr seid im Dschungel.“ Die gerade noch wild hin- und herspringenden Kinder tasten vorsichtig durch das Nichts. Sie schieben Blätter zur Seite, die nur sie sehen, versuchen nach Lianen zu greifen und blicken die Baumriesen hinauf. „Standbild“, sagt Stefanski. Die Dschungexpedition friert ein. Stille. Dann schallt wieder die Musik. „Woo-hoo, woo-hoo.“ Das Startsignal, wieder zu springen und zu toben.

Auf einer Insel im Polymeer: Die Kinder sitzen im Zelt. © Sylvia vom Hofe
Eigentlich ist die 45-Jährige Verwaltungsfachkraft und Projektassistentin. 2015 hat Natalie Stefanski das berufliche Ruder aber noch einmal umgeschmissen und angefangen zu studieren. Soziale Arbeit. Dabei hat sie die Theaterpädagogik kennen- und lieben gelernt und ein Jahr lang am Jungen Schauspielhaus Bochum gearbeitet. Seine damalige Leiterin: Martina van Boxen. Sie hat „Nalu und das Polymeer“ geschrieben und inszeniert: die Geschichte von Menschen, die „in nicht allzu ferner Zukunft“ auf einer Insel leben, auf der Plastik der einzige verbliebene Rohstoff ist. Und der wird zunehmend knapp. Ein trostloses Leben, das sich plötzlich ändert, als das Mädchen Nalu ein Stück Holz findet – und mit ihm die Hoffnung auf ein besseres Leben.
„Als ich das erste Mal das Stück sah, war ich gleich begeistert“, sagt Stefanski. „Und beim zweiten Mal noch begeisterter.“ Kurz danach steht für sie fest: Genau dieses Bochumer Stück möchte sie auch nach Selm holen – nicht als fertiges Stück, das die Kinder aus sicherer Entfernung betrachten, sondern als Arbeitsgrundlage. Rena, Emilia, Ayleen und die anderen, sind mitten drin – als Schauspieler und Regisseure zugleich.
Natalie Stefanski drückt auf die „Pause“-Taste. Wieder Stille. „Ihr seid bei einem Boxkampf.“ Wer sich gerade noch glücklich im Takt von KT Tunstalls Erfolgshit gewiegt hat, strafft sich jetzt und ballt die kleinen Fäuste. Entschlossener Blick, und schon fliegen die ersten Haken durch die Luft. „Standbild.“ Die Kinder verharren bewegungslos. Nicht einmal ein Kichern ist zu hören.
Freizeit der Kinder ist kanpp bemessen
Das bleibt auch aus, als Natalie Stefanski fünf Minuten und zwei Standbilder später diese Frage stellt. „Wer hat die Hausaufgaben gemacht?“ Nur drei Finger heben sich: Norina, Dustin und Hannah haben die neue Szene vorbereitet. Die anderen nicht. Natalie Stefanski blickt streng. Sicher, Viertklässler haben viel zu tun, erst recht kurz vorm Wechsel auf die weiterführende Schule. Sie machen Sport, singen im Chor, spielen vielleicht auch ein Instrument. Aber an diesem Dienstag machen sie wie jede Woche seit September Theater. Und das bedeutet auch: Einsatz zeigen. Das ist mehr, als nur den Text zu lernen.

Multimedial: Lars Koltermann (18, r.) und Alexander Nimtz (13) vom Filmprojekt Selm werden für Ton und Video sorgen bei der Aufführung. © Sylvia vom Hofe
„Wollt ihr die Handlung spielen oder soll einer von euch der Erzähler sein?“ Das ist eine dieser Entscheidungen, die die Kinder treffen müssen. Erzählen mag einfacher sein, spielen aber anschaulicher, interessanter. Aber wird das Publikum auch verstehen, was sie da zeigen? Den Fund einer Flaschenpost: einer Nachricht in einer der vielen Plastikflaschen – der Hinweis auf andere Menschen, die es irgendwo außerhalb der kleinen Plastikinsel gibt. „Kommt, wir probieren das aus“, schlägt eines der Mädchen vor. Natalie Stefanski lächelt.
Wichtig: Sich etwas trauenlernen
Das will die Wahl-Selmerin: dass die Kinder sich etwas zutrauen, dass sie selbst Initiative ergreifen und gemeinsam etwas bewirken. Wenn das auf der Bühne klappt, dann auch dahinter und daneben.
Die Szene ohne Erzähler klappt nicht so gut. „Das fand ich blöd“, sagt eines der Kinder, das den anderen zugeschaut hat. Stefanski hebt den Finger, und schon korrigiert sich das Kind. „Ich hätte es anders noch besser gefunden.“ Andere kritisieren und Kritik aushalten – das will auch gelernt sein.

So machen sich Schauspieler warm: Gerade haben sie noch getanzt, jetzt spielen sie kreischend die Szene: „In einem Aufzug, der abstürzt.“ © Sylvia vom Hofe
Die nächste Gruppe ist an der Reihe: Strand, Flaschenpost, Menschen, die tuscheln – und das Meer, das rauscht. Die Quelle des Geräusches ist auf der Bühne nicht auszumachen. Bianca Elting sitzt ein paar Schritte unterhalb. Die Musikpädagogin bewegt eine mit Sand gefüllte Plastikform langsam auf und ab, wie Wellen, die an Land spülen. Das sei nur eines der vielen Geräusche, die das Stück untermalen werden, sagt sie später in der Pause. Ganz unterschiedliche Laute, die eines gemeinsam haben werden: „Wir wollen Instrumente benutzen, die wir selbst gebaut haben“ – aus Plastikmüll.
Polymere Kunststoffe und das Polymeer
Aus polymeren Kunststoffen. Da ist das Wort, das um einen Buchstaben verändert im Titel des Stücks vorkommt: „Polymeer. „So heißt das Meer in dem die Insel ist“, sagt Dustin. Er und die anderen wissen noch nichts von chemischen Verbindungen aus Kettenmolekülen: dem Stoff, aus dem der Müll ist, der nicht nur das Meer im Theaterstück, sondern auch die Nordsee und anderen Gewässer verdreckt. Dafür haben sie schon viele andere Begriffe gelernt.
„Standbild“ zum Beispiel: eine Szene ohne Sprache und Bewegung. Oder „Vierte Wand“: die zum Publikum hin offene Seite der Bühne. Aber auch „Revolution“: das Aufbegehren von Nalu und den anderen Inselbewohnern gegen eine als ungerecht erfahrene Herrschaft. Und vor allem Solidarität: das Bewusstsein, dass man gemeinsam viel mehr erreichen kann als alleine – auf der fantastischen Insel PI im fernen Polymeer genauso wie zuhause in Selm.
Leiterin des Medienhauses Lünen Wer die Welt begreifen will, muss vor der Haustür anfangen. Darum liebe ich Lokaljournalismus. Ich freue mich jeden Tag über neue Geschichten, neue Begegnungen, neue Debatten – und neue Aha-Effekte für Sie und für mich. Und ich freue mich über Themenvorschläge für Lünen, Selm, Olfen und Nordkirchen.
