Sexuelle Belästigung in Selmer Flüchtlingsunterkunft? Kanne-Beschäftigte zeigen Security an

Flüchtlingsunterkunft in Selm: Strafanzeigen gegen Security
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Hinter den Kulissen der von der Stadt Selm betriebenen Flüchtlingsunterkunft an der Industriestraße rumort es gewaltig. Gegen Mitarbeiter der dort im Auftrag der Stadt tätigen Sicherheitsfirma liegen zwei Strafanzeigen vor. Es geht um „Verleumdung auf sexueller Grundlage“ und „Nötigung“. So steht es in den Strafanzeigen, die unserer Redaktion vorliegen.

Wie die Polizei auf Anfrage unserer Redaktion am Mittwoch (1. März) bestätigte, seien die Anzeigen zwei Tage zuvor, also am Montag (27. Februar), erstattet worden. Weitere Angaben zur Sache machte die Polizei nicht, außer dass es sich bei den Antragstellern um zwei Frauen handelt: „Mehr können wir nicht sagen. Wir stehen am Anfang der Ermittlungen.“

Die beiden Antragstellerinnen (30/45), die ihre Namen aus Sorge um ihre fünf Kinder im Alter von 5 bis 15 Jahren nicht veröffentlicht wissen wollen, sind Angestellte der regional tätigen Bäckerei-Kette Kanne mit Sitz in Lünen.

Das Unternehmen ist seit Jahren als Caterer für die Versorgung der in Selm an der Industriestraße untergebrachten Flüchtlinge mit Speisen und Getränken zuständig. In der Flüchtlingsunterkunft leben zurzeit 80 Menschen.

Um die Sicherheit in der Flüchtlingsunterkunft kümmert sich im Auftrag der Stadt seit Juni vergangenen Jahres die bundesweit tätige „Autarcs GmbH - Sicherheitsdienst und Wachschutz“ mit Sitz in Bad Wörishofen (Bayern). Für die Sicherheit in der Selmer Flüchtlingsunterkunft zeichnet die Niederlassung in Gelsenkirchen verantwortlich.

Die Vorwürfe

Wie die Kanne-Mitarbeiterinnen im Gespräch mit unserer Redaktion sagten, seien sie in der Vergangenheit immer wieder von zwei Mitarbeitern der Sicherheitsfirma verbal angegangen, verletzt und unter Druck gesetzt worden. „Von einem der beiden wurde ich gefragt, ob ich nicht Lust habe, in der Küche mit ihm rumzumachen“, sagte die 30-jährige Mitarbeiterin, die schon seit 13 Jahren bei Kanne beschäftigt ist.

Ihre Kollegin arbeitet erst seit einigen Monaten für das Familienunternehmen. Die 45-Jährige stammt aus der Ukraine und ist mit ihren drei Söhnen (10/12/13) vor Wladimir Putins Schergen geflüchtet. Eine Zeitlang lebte die Familie selbst in der Selmer Flüchtlingsunterkunft. Inzwischen hat sie eine eigene Wohnung.

„Mich hat man mehrfach als Schlampe etc. bezeichnet und mir gedroht, dass mir etwas blühe, wenn ich nicht übrig gebliebene Wurst für die Katzen rausrücken würde.“ Weiter sagte die Ukrainerin: „Das tut schon verdammt weh, so beschimpft und abwertend - wie Dreck - behandelt zu werden. Und das nach allem, was wir so schon durchgemacht haben.“

In der Selmer Flüchtlingsunterkunft an der Industriestraße leben zurzeit 80 Menschen.
In der Selmer Flüchtlingsunterkunft an der Industriestraße leben zurzeit 80 Menschen. © Albert (A)

Das sagt Kanne

Wilhelm Kanne jr., Geschäftsführer des Traditionsunternehmens, sagte am Freitag (3. März) im Gespräch mit unserer Redaktion, dass gerade Klärungsgespräche mit allen Beteiligten laufen würden. Dazu gehörten, sagte Kanne auf Nachfrage, natürlich neben den Mitarbeiterinnen das Sicherheitsunternehmen, die Stadt Selm und das DRK.

In der Tat liefen die Telefondrähte zwischen den genannten Institutionen in den vergangenen Tagen heiß. Grund dafür waren nicht zuletzt die Anfragen unserer Redaktion und der damit einhergehende Abstimmungsbedarf der verschiedenen Parteien.

Derweil erklärte Wilhelm Kanne jr. am Freitag weiter, dass es ihm ein großes Anliegen sei, dass sich seine Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen wohlfühlten. Außerdem wies er darauf hin, dass es nach seinem Kenntnisstand bislang nie Probleme vor Ort gegeben habe. Auf die Frage unserer Redaktion, ob die Probleme vielleicht mit dem neuen Sicherheitsdienst zusammenhängen könnten, antwortete Kanne nicht.

Unternehmer und Bäckermeister Wilhelm Kanne jr. liegt, wie er sagt, dass Wohl seiner Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen sehr am Herzen.
Unternehmer und Bäckermeister Wilhelm Kanne jr. liegt, wie er sagt, dass Wohl seiner Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen sehr am Herzen. © Kanne (A)

Das sagt die Stadt

Die Stadt Selm teilte unserer Redaktion am Freitag schriftlich mit, dass die Angaben der Mitarbeiterinnen falsch seien, wonach Bürgermeister Thomas Orlowski schon seit November vergangenen Jahres über die Vorgänge informiert sei. Wortwörtlich hieß es:

  • Die Verwaltung hat über diese konkreten Vorwürfe erst im Laufe des 2. März 2023 (Donnerstag, Anm. d. Red.) erfahren.
  • Im September 2022 war bei der Verwaltung ein anonymer Brief eines angeblichen DRK-Mitarbeiters eingegangen, der sich auf Fehlverhalten von Mitarbeitern des Sicherheitsdienstes - einvernehmliche sexuelle Handlungen zwischen Mitarbeitern des Sicherheitsdienstes und untergebrachten Flüchtlingen, Verlassen der Liegenschaft - beziehungsweise Vergehen der Firma (Verstoß gegen den Mindestlohn) bezog.
  • Der Vorwurf einer „Nötigung“ oder „der Verleumdung auf sexueller Grundlage“ wurde nicht geäußert.
  • Die Verwaltung ist den Vorwürfen aus dem anonymen Brief unverzüglich nachgegangen und hat mit der beauftragten Firma das Gespräch gesucht.
  • Diese hatte nach Gesprächen mit Mitarbeitern die Vorwürfe zurückgewiesen und zudem Belege hinsichtlich des Mindestlohns eingereicht.
  • Ebenfalls waren damals Gespräche mit den Verantwortlichen des für die Sozialbetreuung der Flüchtlinge in der Unterkunft zuständigen Deutschen Roten Kreuzes geführt. Die genannten Vorwürfe aus dem Brief wurden vom DRK nicht bestätigt.

Für Selms Bürgermeister Thomas Orlowski gab es in den vergangenen Tagen rund um die Flüchtlingsunterkunft an der Industriestraße viel zu telefonieren.
Für Selms Bürgermeister Thomas Orlowski gab es in den vergangenen Tagen rund um die Flüchtlingsunterkunft an der Industriestraße viel zu telefonieren. © Brede

Gespräche über Gespräche

Die jüngsten Vorwürfe waren im Übrigen am Donnerstag (2. März) Gegenstand eines Gespräches zwischen den Kanne-Mitarbeiterinnen und Wolfgang Kaiser, Abteilungsleiter für Jugend, Schule, Familie und Soziales. Was dieses Gespräch betrifft, weichen die Aussagen der Beteiligten inhaltlich voneinander ab.

Angaben der Kanne-Mitarbeiterinnen, wonach Wolfgang Kaiser gesagt habe, dass man den Vertrag mit der Firma dann kündigen werde, wenn „wirklich etwas passiert“, seien falsch:

„Es wurde gegenüber den Frauen geäußert, dass, sollten sich die Vorwürfe bestätigen und die Firma nicht angemessen darauf reagieren, die Möglichkeit einer Kündigung der Verträge in Erwägung gezogen werden kann.“

Zudem fand Donnerstag ein erstes Gespräch zwischen der Stadt und dem Sicherheitsdienst statt. Beide Seiten einigten sich darauf, bis zum Ende des Ermittlungsverfahrens die beschuldigten Mitarbeiter nicht mehr in der Flüchtlingsunterkunft einzusetzen.

„Wir haben die Mitarbeiter inzwischen vom betreffenden Objekt entfernt“, sagte Autarcs-Projektleiter Alexander Kuszlik nach einem zweiten Gespräch des Sicherheitsdienstes mit der Stadt Selm am Freitag (3. März). Die Männer warteten jetzt erstmal die Anzeigen ab und würden dann ihrerseits Anzeige wegen Verleumdung stellen. Er habe den Eindruck, sagte Alexander Kuszlik, dass „die Frauen ein Problem mit unseren Mitarbeitern (haben)“.

Anmerkung der Redaktion:

In der Ursprungsversion dieses Textes hatten wir geschrieben, dass das Deutsche Rote Kreuz (DRK, Kreis Unna) Betreiber der Flüchtlingsunterkunft ist. Das ist falsch. Betreiber ist die Stadt Selm.

Vielmehr ist die DRK-Betreuungsdienste Westfalen-Lippe gGmbH (Münster) seit Ende April 2017 Betreuungsdienstleister im Städtischen Übergangsheim Selm.

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