Haben Eltern Lieblingskinder? Psychotherapeut: „Ja - und es ist salopp gesagt scheißegal“

Haben Eltern Lieblingskinder? „Ja – und es ist salopp gesagt scheißegal“
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Mindestens alle zwei Tage können es sich die Eltern von Geschwisterkindern anhören: „Das ist unfair“, „Du hast meinen Bruder viel lieber als mich“, „Warum schimpft ihr immer nur mit mir?“ Geschwisterrivalität gehört zum Alltag dazu.

Doch gibt es tatsächlich Eltern, die ein Kind unbewusst dem anderen vorziehen? Warum ist das so? Und welche Auswirkungen hat das auf unsere Kinder? Wir haben mit dem Kinder- und Jugendpsychotherapeuten Dr. Christian Lüdke über das Thema gesprochen.

Behandeln Eltern ihre Kinder wirklich immer gleich, oder gibt es auch Lieblingskinder?

Ja, es gibt Lieblingskinder. Eltern lieben und behandeln ihre Kinder nicht immer gleich, weil es von ganz vielen Faktoren abhängig ist.

Welche Faktoren sind das?

Es hängt von dem Alter der Kinder ab, und davon, wie die Situation der Eltern ist. Das Alter sowie der Lebens- und Erfahrungshintergrund der Eltern spielen da auch mit hinein.

Kinder haben unterschiedliche Bedürfnisse. Die können mal einfacher, manchmal schwieriger zu erfüllen sein. Kinder sind auch unterschiedlich. Man hat ein ruhiges Kind oder ein temperamentvolles. Ich erlebe es immer wieder, dass Kinder bevorzugt werden.

Es gibt Konstellationen, da ist ein Kind total superlieb, ein kompletter Selbstläufer. Quasi ein sich selbst erziehendes Kind. Das andere hat Schwierigkeiten. Es gibt Kinder mit ADHS oder mit Impuls-Kontroll-Störungen, die sehr aggressiv sind. Was die Eltern extrem herausfordert. Da fällt es dann auch schwerer, ein solches Kind gleich liebzuhaben.

Solche extremen Unterschiede gibt es aber nicht in allen Familien.

Wenn ich das auf meine Familie übertrage, dann versuche ich grundsätzlich, es sehr gerecht zu machen. Wir haben kein Lieblingskind. Es gibt nur ein Kind, das wir schon zwei Jahre länger lieben als unser anderes Kind. Das ist der einzige Unterschied. Aber ich erlebe es immer wieder. Die Bedürfnisse der Eltern und der Kinder bestimmen am Ende darüber, ob wir ein Kind gleich behandeln oder nicht.

Entsteht allein durch die Reihenfolge der Kinder eine mögliche Favorisierung?

Es gibt keine Per-se-Favorisierung – das hat auch mit der Erziehungserfahrung zu tun. Wir sind nicht von Geburt an Eltern. Beim ersten Kind ist die Veränderung viel größer. Das Kind steht im Vordergrund, man behandelt es oft wie ein rohes Ei. Beim zweiten Kind weiß man dann schon: Hey, die sind gar nicht so zerbrechlich. Das sind ganz robuste, lebenstüchtige Wesen. Und da wird vieles eben zur Selbstverständlichkeit. Das macht einiges anders.

Macht das später etwas mit den Kindern?

Langfristige Auswirkungen auf Kinder sind sehr gut untersucht. Da gibt es Studien, zum Beispiel von Wassilios E. Fthenakis [ein griechisch-deutscher Pädagoge, Anthropologe, Genetiker und Psychologe, Anm. d. Red.]. Seine Ergebnisse sind sehr ernüchternd: Wir haben als Eltern so gut wie keine langfristige Einflussmöglichkeit. Von daher ist es ganz salopp gesagt „scheißegal“, ob wir ein Kind bevorzugen oder nicht. Das hat am Ende keine Auswirkungen, sie entwickeln sich alle gleich gut oder gleich schlecht.

Worauf kommt es dann an?

Der wichtigste Punkt ist die Qualität der Beziehung der Eltern untereinander. Im besten Fall gibt es bei den Eltern klare Regeln – und Werte. Wie ein respektvoller und liebevoller Umgang. Wir schreien uns nicht an. Wir lassen uns ausreden. Das ist das, was Kinder letztlich ein Leben lang prägt.

Gestern sagte mir eine Patientin: „Ich bin kein Wunschkind“. Ich habe ihr gesagt: „Ob Sie ein Wunschkind sind oder nicht: Schön, dass Sie da sind.“ Und wenn Kinder diese Erfahrung machen, dann ist alles gut. Wichtig ist, ihnen als verlässliche Vertrauens- und Bezugspersonen zur Seite zu stehen. Auch, wenn man manchmal Unterschiede macht.

Oft ist die Ungerechtigkeit, die Kinder empfinden, gar nicht beabsichtigt.

Kinder fühlen sich oft ungerecht behandelt. Aber die Frage ist: Ist es wirklich so? Oder setzt mein Kind Gefühle als Allzweckwaffe ein – weil es möglicherweise Stress mit dem Geschwisterkind hat, weil es nicht einverstanden ist mit irgendwas, weil es etwas kompensiert? Hier kommt wieder die Erziehungserfahrung ins Spiel.

Geschwister
Große und kleine Geschwister - behandeln wir sie gleich? Und wenn nicht: Was macht das mit ihnen? © Martina Niehaus (A)

In welchen Momenten werden wir ungerecht?

Wir sind nicht immer gleich gut drauf. Haben Stress mit dem Partner oder auf der Arbeit. Corona, Klimawandel, Energiekrise, Inflation. Diese Sorgen gehen an niemandem spurlos vorbei. Dann sind wir ungerecht, schreien unser Kind mal an. Oder die Kinder untereinander streiten sich. Aber dafür sind wir ja eine Familie. Weil das die einzigen Menschen sind, wo man auch mal ungerecht sein darf. Und die mich dann morgen trotzdem weiterhin liebhaben und zu mir halten.

Wie kann ich mich auch im Streit möglichst gerecht verhalten?

Wir können nicht zwei Gefühle gleichzeitig empfinden. Ich kann mein Kind nicht gleichzeitig lieben und mich darüber ärgern. Das nennt man eine kognitive Dissonanz: ein extrem unangenehmer Zustand. Und das löst man dadurch auf, indem man Person und Verhalten trennt: Ich liebe dich, aber ich mag nicht, wie dein Zimmer aussieht. Oder wie du gerade mit deinem Bruder oder deiner Schwester umgegangen bist.

Das ist mit der wichtigste Grundsatz. Neben dem, Kinder immer bedingungslos zu lieben. Liebe und Zuwendung darf man niemals an eine Handlung oder eine Leistung koppeln. Nach dem Motto: Ich hab dich nur lieb, wenn du ruhig und artig bist oder eine gute Note nach Hause bringst. Kinder sind keine dressierten Zirkusaffen. Das sollen ganz starke, selbstbestimmte Persönlichkeiten werden.

Geschwister hauen sich auch gern gegenseitig „in die Pfanne“.

Oh ja, und sie versuchen auch, Mama und Papa in die Pfanne zu hauen. Das liegt im Egoismus der Gene. Die erste Regel lautet: Sei nett zu allem Nahestehenden. Die zweite Regel besagt: Sei gemein zu allem Fernstehenden. Dritte Regel: Wie du mir, so ich dir. Die vierte und wichtigste Regel lautet: Betrüge, wo du nur kannst! Diese Regel sichert quasi unser körperliches und emotionales Überleben.

Bei Vorträgen sagen Eltern: Bei mir ist das nicht so. Dann erinnere ich sie an verschiedene Situationen. Die Kassiererin gibt uns fünf Euro zu viel raus. In dem Moment durchzuckt uns ein Impuls: Sag nichts, das könntest du jetzt einstecken. Oder Geschwindigkeitsbegrenzungen. Halten wir uns immer daran? Nein, wir betrügen, wo wir nur können.

Das machen Kinder auch. Sie wollen ihren Vorteil haben. Ich will Mama, ich will Papa, ich will mehr Zeit oder Streicheleinheiten. Das ist angeboren, und das machen sie teilweise ohne Rücksicht auf Verluste.

Mutter und Kind
Kinder brauchen die Verlässlichkeit von Mama und Papa. Darauf kommt es an, sagt Psychotherapeut Dr. Christian Lüdke. © picture alliance/dpa

Wie werde ich meinen Kindern trotzdem gerecht?

Eltern geben Schutz, Sicherheit und Geborgenheit. Sie vermitteln Zuversicht, Hoffnung und Vertrauen. Wenn wir unseren Elternjob richtig gut machen, dann machen wir uns bei unseren Kindern extrem unbeliebt. Wenn wir Glück haben, verzeihen sie uns das irgendwann. Aber wir achten darauf, dass sie gesund und stabil ins Leben starten, auch wenn unsere Liebe nicht immer gleich intensiv ist. Auch wenn wir manchmal ungerecht sind. Alles andere machen die Kinder dann von ganz alleine.

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