
Kinder- und Jugendpsychotherapeut Dr. Christian Lüdke beantwortet uns regelmäßig Fragen rund um das Thema Familie und Erziehung. © Lüdke
Was dürfen Kinder eigentlich selbst entscheiden? „Bauchfrei zur Schule? Ein absolutes No-Go!“
Kinder-Psychotherapeut
Die Tochter will im Bauchfrei-Top zur Schule, der Sohn möchte bis Mitternacht auf die Kirmes. Was dürfen Kinder selbst entscheiden – und was nicht? Wir haben Dr. Christian Lüdke gefragt.
Jeder Tag bringt in Familien Diskussionen mit sich. Der Morgen beginnt mit der Klamottenfrage, nachmittags geht es ums Lernen für die Mathearbeit, abends möchte der Sohnemann dann mit den Kollegen raus. Und zwar am liebsten bis Mitternacht.
Wir haben mit Kinder- und Jugendpsychotherapeut Dr. Christian Lüdke (62) darüber gesprochen, welche Entscheidungen Kinder selbst treffen sollten, und wie man Lösungen finden kann, um ständige Diskussionen zu vermeiden. Der Vater von zwei inzwischen erwachsenen Töchtern sagt: „Manchmal gibt es keine Diskussion.“
Die Tochter möchte am liebsten im tiefsten Winter im bauchfreien Top zur Schule, der Sohnemann findet die Jogginghose in Camouflage-Optik so bequem. Was erlaube ich und was nicht?
Dr. Lüdke: „Kinder und Jugendliche sollten auf gar keinen Fall nur tragen, was sie wollen, denn mit der Einschulung werden sie zu öffentlichen Personen. Da gibt es andere Regeln, andere Werte und auch andere Kriterien. Das sollte sich in der Kleidung widerspiegeln. Wir Erwachsenen gehen ja auch nicht in der Jogginghose zur Arbeit oder zum Kundentermin, und das sollten Kinder schon sehr früh lernen. In diesem Punkt sollten Eltern auch konsequent sein.“
Vielen Kindern ist es aber viel wichtiger, cool auszusehen.
Dr. Lüdke: „Das Thema ist an den Schulen oft ein großes Problem. Meine Töchter waren zwischendurch eine Zeit in Spanien, dort wurden Schuluniformen getragen. Das finde ich eigentlich gar nicht so schlecht, da hat man nämlich diesen ganzen Druck mit den Markenklamotten nicht. Grundsätzlich muss es ja nicht spießig oder uncool sein, was die Kinder tragen. Aber Jogginghose und bauchfrei wären für mich ein absolutes No-Go.“
Angenommen, die Bauchfrei-Krise ist gemeistert. Dann kommt der nächste Konflikt: Das Kind weigert sich, bei gefühlten minus fünf Grad zumindest einen Pulli überzuziehen. Wie reagiere ich da richtig?
Dr. Lüdke: „Wenn es um die Gesundheit geht, würde ich sagen: Einfach gar nicht erst diskutieren. Umso schneller gewöhnen sich die Kinder dran. Man kann aber Alternativen geben: Entweder du trägst einen Pulli drüber, oder eben die Jacke mit Reißverschluss. Auch beim Thema Sicherheit sollte es keine Toleranz geben. Dann kann man sagen: Ja, der Fahrradhelm sieht vielleicht kacke aus. Trotzdem möchte ich, dass du den aufsetzt. Hier sollten Eltern auch Vorbild sein und selbst einen Helm tragen.“
Auch abseits der Klamottenfrage gibt es häufig Diskussionen. Ein Klassiker: Der oder die 15-Jährige möchte abends ausgehen, und zwar am liebsten so RICHTIG lange. Außerdem möchte das Kind mit dem Bus nach Hause fahren, weil es uncool ist, wenn einen die Eltern mit dem Auto abholen. Was sage ich?
Dr. Lüdke: „Über die Uhrzeit oder eine spontane Zeitverlängerung kann man immer diskutieren. Bei der Frage ,Bus oder Abholen‘ hat hingegen das Thema Sicherheit Vorrang. Ich würde dann dem Kind sagen, ich warte auch gerne im Auto am vereinbarten Treffpunkt. Maßstab für die Uhrzeit ist dabei immer der Notenspiegel in der Schule. Wenn sich die Kinder so im Mittelbereich befinden, so zwei oder drei bis maximal vier, dann kann man durchaus ein Auge zukneifen. Aber die spätere Uhrzeit darf sich nicht negativ auf die Noten auswirken. Die Schulzeit ist ein notwendiges Übel, wo man eben durch muss.“
Ach ja, das notwendige Übel. Wie sieht es aus, wenn zum Beispiel eine Mathearbeit ansteht? Ich höre dann: „Die ist erst in zwei Wochen, ich fange bald an.“ Und kurz vorher bekommt der Rechenkandidat dann ein Zeitproblem. Übe ich also rechtzeitig Druck aus – oder überlasse ich meinem Kind selbst die Verantwortung für gute oder schlechte Noten?
Dr. Lüdke: „Mal ehrlich: Wir haben auch nie ganz von allein gelernt und sind von unseren Eltern genervt worden. Und genau aus diesem Grund würde ich mein Kind auch nerven. Zwei Wochen erscheinen anfangs lang, aber plötzlich sind sie schnell rum. Man kann sich das Lernen ja häppchenweise einteilen. Bei Vokabeln favorisiere ich Karteikarten, die sind sehr einprägsam.“
Sie haben sicher Recht, aber da bin ich wieder beim Thema Diskussionen. „Ich habe heute keinen Bock“ oder „Das passt schon“, diese Antwort kommt automatisch. Was sage ich meinem Kind?
Dr. Lüdke: „Es geht hier nicht darum, keinen Bock zu haben. Es geht darum, sich den Stoff draufzuschaffen, und das funktioniert am besten mit einer klaren Tagesstruktur. Man kann da natürlich auch helfen. Nach Schule und Sport braucht ein Kind auch Freizeit. Trotzdem sollte man feste Lerneinheiten in die Wochenplanung einbeziehen. Das kann man absprechen. Natürlich läuft das an manchen Tagen besser, und es klappt nicht immer gleich gut. Aber irgendwann entwickelt sich eine Routine.“
Abgesehen von alltäglichen, „kleinen“ Diskussionen gibt es auch noch größere Entscheidungen. Ein Beispiel: Welche weiterführende Schule soll mein Kind besuchen? Im Idealfall sind wir uns einig. Doch wenn mein Kind eine andere Schule favorisiert als ich – sollte ich dann die Entscheidung über ihren oder seinen Kopf hinweg treffen?
Dr. Lüdke: „Kinder entscheiden emotional und nicht rational. Die ganzen äußeren Einflussfaktoren sind ihnen oft nicht bewusst, auch wenn sie glauben, sie zu kennen. Sie können es einfach noch nicht. Oft geht es Kindern darum, mit bestimmten Freunden zur Schule zu gehen. Oder ein Geschwisterkind geht dorthin. Doch die Schulwahl sollte nie personenabhängig sein, auch wenn ich das verstehen kann. Man sollte deutlich klarmachen: Wir als Eltern versuchen, für dich die richtige Entscheidung zu treffen.“
Doch möglicherweise kommen irgendwann Vorwürfe, zum Beispiel wenn sich mein Kind dort nicht wohlfühlt.
Dr. Lüdke: „Wenn ich meinem Kind eine solch wichtige Entscheidung ganz allein überlasse, kann hinterher genau das Gegenteil passieren. Dann kommt es und sagt: Mensch Mama oder Papa, warum hast du mir damals nicht gesagt: ,Mach es nicht?‘, und da würde ich mit meiner Tochter oder meinem Sohn ganz offen und ehrlich drüber reden.“
Unser Familien-Psychotherapeut

Christian Lüdke (62) ist selbst Vater von zwei inzwischen erwachsenen Kindern. © Lüdke
- Dr. Christian Lüdke (61) ist approbierter Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapeut und Klinischer Hypnotherapeut. Lüdke unterstützt Kinder, Jugendliche, Familien und Paare. TV-Zuschauerinnen und Zuschauer schätzen seit vielen Jahren seine kompetenten Tipps rund um das Thema Familie und Kinder.
- Er ist selbst zweifacher Vater und gibt in unserer Kolumne Tipps zu vielen Fragen rund um Familie und Kinder.
- Lüdke ist erfolgreicher Autor u.a. der Kinderbücher zu Stella & Tom.
- Kontakt zum Familien-Experten: Sie sind Eltern- oder Großelternteil oder Erziehungsberechtigter und haben eine Frage an unseren Familien-Experten Dr. Christian Lüdke? Dann schreiben Sie uns Ihr Anliegen unter Angabe Ihres Namens und Ihrer Heimatstadt an familien@rnw.press
Begegnungen mit interessanten Menschen und ganz nah dran sein an spannenden Geschichten: Das macht für mich Lokaljournalismus aus.
