Der elfjährige Jonathan (l.) und sein Freund Maximilian (12) vor dem Rathaus. Sie fragen sich, warum viele der ukrainischen Flüchtlingskinder aus ihrer Nachbarschaft erst nach Monaten in die Schule gehen konnten.

Der elfjährige Jonathan (l.) und sein Freund Maximilian (12) stehen vor dem Rathaus. Sie fragen sich, warum viele der ukrainischen Flüchtlingskinder aus ihrer Nachbarschaft erst nach Monaten in die Schule gehen konnten. © Martina Niehaus

Jonathan (11): „Ukrainische Nachbarskinder konnten monatelang nicht zur Schule!“

rnSchulausschuss

Vor dem Schulausschuss stellt ein Elfjähriger ganz mutig eine Frage, die bürokratische Hindernisse und ein Problem offenbart: An Schwerter Schulen ist nicht genug Platz für alle ukrainischen Kinder.

Schwerte

, 12.09.2022, 11:00 Uhr / Lesedauer: 4 min

In der Sitzung des Schulausschusses am 31. August geht während der Bürgersprechstunde der elfjährige Jonathan ans Mikrofon auf der Empore. Er fragt die Ratsmitglieder: „Warum dauert es so lange, bis meine ukrainischen Nachbarskinder zur Schule gehen können?“

Der Gymnasiast, der in Begleitung seiner Mutter und seines Freundes Maximilian zur Sitzung gekommen ist, erläutert anschließend: „Ich wohne in der Messingstraße, und alle Grundschulkinder aus unserer Straße gehen in die Heideschule, alle zusammen zu Fuß.“ Im Nachbarhaus seien schon in den Osterferien ukrainische Familien mit insgesamt zehn Kindern eingezogen.

„Die Kinder haben an den ersten Tagen echt geweint“

Doch die ukrainischen Kinder seien teilweise der Friedrich-Kayser-Schule zugewiesen worden. Und die ist viel weiter entfernt als die Heideschule. Jetzt würden die Kinder mit dem Bus zur FKS fahren. „Die Fahrkarte muss die Stadt bezahlen, es ist nicht klimafreundlich, und die Kinder haben an den ersten Tagen echt geweint, weil sie in einem fremden Land, einer fremden Stadt in einen fremden Bus steigen mussten.“

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Doch Jonathans Anfrage geht noch weiter – sie betrifft die älteren Kinder, die weiterführende Schulen besuchen. Oder vielmehr besuchen sollten. „Von den größeren Kindern hat nur einer schon vor den Sommerferien einen Schulplatz bekommen, zwei erst eine Woche nach den Sommerferien und eine Schülerin hat immer noch keine Schule!“

Jonathan fragt die Schwerter Politiker: „Wie lange muss die denn noch warten, bis sie zur Schule gehen und Deutsch lernen kann?“

Betretenes Schweigen im Ausschuss

Auf Jonathans Anfrage herrscht im Ausschuss erst einmal betretenes Schweigen. Dann meldet sich Schulamtsdirektorin Christine Raunser vom Kreis Unna zu Wort, die ebenfalls an der Sitzung teilnimmt. „Ich bin nicht in Kenntnis, dass Kinder in der Messingstraße wohnen, deren Einzugsgebiet die Heideschule ist“, sagt sie.

Sie werde Jonathans Anregung „gerne mit zurück ins Büro“ nehmen, sagt sie. Die Stadt würde die Schulen direkt kontaktieren, sobald die Kinder gemeldet seien. Die Wohnortnähe würde dabei üblicherweise beachtet. „Aber ich kann deine Frage nicht abschließend beantworten.“

Jonathan traut sich was: Er setzt sich vor dem Schulausschuss für seine ukrainischen Nachbarskinder ein.

Jonathan traut sich was: Er setzt sich vor dem Schulausschuss für seine ukrainischen Nachbarskinder ein. © Martina Niehaus

Die Frage des Schülers löst eine rege Diskussion zwischen den Fraktionen aus. Sabine Reetz vom Schulverwaltungsamt teilt auf Anfrage der SPD-Fraktion mit, dass im Schuljahr 21/22 insgesamt 98 geflüchtete Kinder und im Schuljahr 22/23 insgesamt 21 Kinder an Schwerter Schulen untergebracht worden seien.

Doch über die Art der Anmeldung und Anmeldungsversuche bekomme man nicht immer eine Rückmeldung. „Es ist nicht bekannt, wie viele Kinder erfolgreich an Schulen angemeldet wurden.“ Dazu gebe es keine Zahlen.

Kein Überblick: „Schockierende Tatsache“

Christine Raunser fügt noch hinzu, dass die Stadt Schwerte stets mit dem kommunalen Integrationszentrum (KI) in Kontakt sei. Doch manche Familien, die anfangs privat untergebracht seien, würden sich nicht beim Kreis melden. Viele würden sich direkt persönlich an die Schulen wenden. „Wenn die Kinder gemeldet sind, werden sie ab morgen an der Heideschule Schüler sein“, sagt sie.

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Ist das so? Angelika Schröder von der SPD hakt nach. „Grundsätzlich spielt doch der Wohnbereich eine Rolle. Hier stellt sich die Frage: Warum sind die Kinder nicht an der Heideschule eingeschult worden? Wieso hat das nicht stattgefunden?“ Claudia Belemann-Hülsmeyer, die die Sitzung leitet, stellt fest: „Offenbar gibt es gar keinen Überblick. Das ist eine schockierende Tatsache.“

Schulpflicht greift bei Anmeldung

Dezernent Tim Frommeyer versucht, einen Überblick zu geben. „Sobald die Familien ins Meldesystem kommen, beginnt die Schulpflicht. Dann setzen wir sämtliche Mechanismen in Gang.“ Marco Sorg von den Grünen fragt nach, ob auch nicht angemeldete Kinder die Schule besuchen könnten. Frommeyer betont, dass man das forcieren wolle. „Aber erst bei der Anmeldung greift die Schulpflicht. Wir tun alles, um die Familien zu unterstützen.“

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Während der elfjährige Jonathan und sein Freund Maximilian die Diskussion von der Empore aus mit wachsender Verwirrung verfolgen, meldet sich Egon Schrezenmaier (CDU) zu Wort. „Sind die Familien gemeldet? Stimmt das?“ Man falle hier sonst der Verwaltung in den Rücken. „Jeder Flüchtling ist willkommen, aber man muss sich an die Gesetze halten und nicht unsere Beamten beschuldigen.“

Jonathan runzelt die Stirn, und seine Mutter erklärt ihm auf der Empore: „Die sind alle längst bei der Stadt angemeldet.“

Heideschule: „Wir sind bemüht zu unterstützen“

Unterdessen entspinnt sich eine weitere Diskussion darüber, welche Klassenstärke die Obergrenze ist und wie die Kapazitäten an der Heideschule und an anderen Grundschulen sind. Tim Frommeyer erklärt, dass man nicht gegen den Willen der Schulen Kinder zuweisen könne. Die Obergrenze liege gerade bei 29. „Es verbleibt allerdings dabei, dass allein die jeweilige Schulleitung über die Aufnahme eines Kindes an der Schule entscheidet“, erläutert der Dezernent später auf Anfrage.

Die ukrainischen Kinder aus der Messingstraße spielen viel mit den deutschen Nachbarskindern zusammen. Die Kommunikation klappt prima. Nur mit dem Schulbesuch klappt nicht alles auf Anhieb.

Die ukrainischen Kinder aus der Messingstraße spielen viel mit den deutschen Nachbarskindern zusammen. Die Kommunikation klappt prima. Nur mit dem Schulbesuch klappt nicht alles auf Anhieb. © privat

Schulleiterin Julia von Halen erklärt auf Anfrage am Telefon, sie habe keine schriftliche Anmeldung dreier ukrainischer Kinder an ihrer Schule erhalten. Ein Kind aus der Messingstraße habe sie vor vier Wochen aufgenommen, zurzeit seien alle Klassen der zweizügigen Grundschule voll – mit 28 bzw. 29 Kindern. Neben vier ukrainischen Kindern seien auch drei Kinder anderer Nationalitäten an der Heideschule untergebracht. „Wir sind immer bemüht zu unterstützen, aber wir sind nicht vom KI angeschrieben worden.“

Schulleiter: „Wir haben so viele sprachlose Kinder“

Die drei Geschwisterkinder, die in der Messingstraße wohnen, fühlen sich inzwischen an der Friedrich-Kayser-Schule wohl. Eines der älteren Kinder sei nach wie vor nicht in der Schule – und traurig darüber, wie Jonathan erzählt. Bei zwei Kindern habe es außerdem rund vier Monate gedauert.

Dazu erklärt Tim Frommeyer später auf Anfrage, dass es bei den weiterführenden Schulen nur noch „sehr begrenzten“ Platz gebe. Man versuche verstärkt, diese Kinder an Schulen im Schwerter Umfeld (Holzwickede, Unna, Dortmund, Hagen etc.) zu vermitteln. „Die Schulplatzsituation dort ist überall ebenfalls angespannt.“

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Von der angespannten Situation berichtet an diesem Mittwoch im Ausschuss auch Dirk Schnitzler von der Albert-Schweitzer-Grundschule. Das Schulamt engagiere sich, aber man habe viele Kinder aufgenommen, die man sprachlich einfach nicht versorgen könne. „Das sind sprachlose Kinder. Wir haben große Befürchtungen, dass sich die Situation noch verschärfen wird.“

Die Grenzen der Machbarkeit seien, so Schnitzler, an allen Schwerter Schulen erreicht. Dirk Schnitzler: „Es ist fünf nach zwölf.“