Fragen Eltern heute ihr Kind, ob es die Schultasche für den nächsten Tag gepackt hat, lautet die Frage nicht mehr: „Hast du Etui und Block dabei?“ Sondern vielmehr: „Ist dein iPad auch geladen?“ Die zunehmende Digitalisierung, die seit der Pandemie in Schulen Einzug gehalten hat, hat auf der einen Seite viele Vorteile gebracht – auf der anderen Seite gibt es aber auch Bedenken.
Zum Beispiel bei Benno Wilker* (53) aus Dortmund. Er sagt: „Für Eltern ist es inzwischen unmöglich, die Mediennutzung ihrer Kinder zu dosieren.“ Medienpädagoge Daniel Schlep aus Schwerte gibt ihm recht – und bemängelt in dem Zusammenhang wiederholt ein ernsthaft durchdachtes Gesamtkonzept der Schulen.
Computer-AG in der Grundschule
Vor der Pandemie, erzählt Benno Wilker in einem längeren Videotelefonat, war „alles noch ganz entspannt“. Wilker hat eine 20-jährige Tochter und einen 13-jährigen Sohn. Auf der Dortmunder Grundschule, die sein Sohn Paul besuchte, habe damals bereits die Digitalisierung begonnen.
„Die Kinder hatten Kontakte mit Medien im Rahmen einer Computer-AG. Mein Sohn lernte die Hintergründe, und bekam ein Verständnis für die Technik dahinter. Das hat mir gefallen.“ Der Umgang mit digitalen Medien an der Schule sei durchaus kritisch gewesen – „wie man sich das von einer Schule halt vorstellt“.
Dann kommen die weiterführende Schule und die Pandemie – und mit ihnen große Herausforderungen für Eltern, Lehrkräfte und Kinder. „Das Homeschooling war echt aufwändig“, erinnert sich der Vater. Alles sei sehr holperig und heterogen gewesen. „Die Hausaufgaben waren das größte Durcheinander und bewertet wurde in jedem Fach völlig unterschiedlich. Manchmal gab es gar kein Feedback.“
Als dann der Präsenzunterricht wieder losgeht, ist auch an der Dortmunder Schule, die der 13-Jährige besucht, die Digitalisierung großes Thema. „Ab dem Sommer sollte man ein Endgerät beschaffen. Welches, war naheliegend. Alle Lehrkräfte rieten uns zum iPad.“

Kinder überfordert
Die Eltern besorgen selbst ein iPad, spätere Geräte werden dann direkt über die Schule beschafft. Heute ärgert sich Benno Wilker darüber, dass er nicht widersprochen hat. „Aus Verwirrung aus dem Homeschooling heraus sind wir in dieses Rollout der Medienwelle geraten.“
Denn er sagt: Ein spürbares Konzept habe es nie gegeben. Schülerinnen und Schüler hätten nach der Rückkehr ohnehin größere Probleme gehabt. „Erst monatelanges Homeschooling, dann tragen alle Leute Masken. Und die Tablets nutzt jede Lehrkraft anders. Mancher nimmt es, mancher sagt, es müsse parallel noch Papier sein. Die Kinder waren völlig überfordert, und an den Geräten gab es keinerlei Training.“
Daniel Schlep sagt dazu: „Ein Buch und ein Blatt Papier, das kennt jeder. Aber das Tablet kennt man als Medium bisher häufig nur aus der unreflektierten Privatnutzung. Man braucht also klare Regeln, um Kinder da heranzuführen.“ Doch die Schulen hätten unterschiedlichste Vorstellungen von Medienkompetenz.
Schlep: „Das Wort wird inflationär gebraucht. Alle reden von Medienkompetenz oder Medienkonzepten. Das hat aber weder Hand noch Fuß.“ Wichtig sei, den Kindern den kritischen Umgang mit den Geräten beizubringen. „Wie verwalte ich meinen digitalen Haushalt sinnvoll hinsichtlich Dateien, Ordnern und Sicherungen? Welche Anbieter stehen hinter meinen Geräten, Systemen und Programmen und was wollen sie von mir? Wo gehen meine Inhalte und Daten hin, was kann damit passieren? All diese Themen fehlen fast überall.“
Benno Wilker sagt dazu: „Das Konzept besteht doch meist darin, irgendeine Hardware hinzupfeffern und die Lehrer darin leidlich anzutrainieren. Das war es eigentlich.“ Hintergrundwissen fehle. „Es ist auch im Lehrplan gar nicht vorgesehen“, klagt der Vater.

Konzentrationsprobleme
Auf dem Elternsprechtag erfährt der Dortmunder dann, dass Paul sich verändert habe, sich nicht mehr konzentrieren könne. „Es hieß, er sei ständig abgelenkt und habe Probleme, dem Unterricht zu folgen.“ Und damit sei der Schüler nicht allein. Benno Wilker glaubt, das liege auch daran, dass Hausaufgaben ebenfalls auf dem Tablet eingereicht werden können – mitunter bis 18 Uhr abends.
Für den ein oder anderen auch eine Ausrede, stundenlang am Tablet sitzen zu können. „Wir Erwachsenen schauen ja auch viel zu oft aufs Handy. Und unsere Kinder werden von der Schule jetzt ebenfalls dazu angehalten. Das ist eine Katastrophe.“
Daniel Schlep bestätigt, dass zwischen einem iPad und einem Smartphone kein großer Unterschied bestehe, was den „Suchtfaktor“ betrifft. „Das iPad ist ein übergroßes Smartphone, im Kern ein Konsumgerät, das Kinder und Jugendliche nun ständig bei sich haben.“ Und weil viele Kinder auf ihrem iPad eben auch Spiele heruntergeladen hätten, würden diese für Ablenkung sorgen.
„Das Kind wird doch ständig angetriggert – durch all die tollen Sachen, die da drinstecken und speziell durch die modernen Spielkonzepte mit bewusst angelegten Suchtspiralen, die zu dauerhafter Nutzung verleiten.“ Das würde selbst im Unterricht passieren.

Radiergummi für das Gehirn
Benno Wilker glaubt, dass Digitalisierung grundsätzlich Sinn ergibt. So könne Stoff bei Unterrichtsausfall trotzdem bearbeitet werden – oder man könne gemeinsam an Projekten arbeiten. Doch das Konzept müsse stimmen.
„Kinder und Jugendliche müssen über Datenschutz Bescheid wissen und eine Ablage-Systematik erlernen. Ich glaube, dass Schule grundsätzlich einen Auftrag zum kritischen Umgang mit Medien haben sollte.“ Er selbst habe in der Schule gelernt, kritisch zu sein. „Und wir ziehen hier eine Horde von unkritischen Konsumenten heran.“
Was die Konzentrationsprobleme betrifft, habe es übrigens eine Deutschlehrerin seines Sohnes auf den Punkt gebracht. Weil nicht alle Kinder an der Schule Schließfächer haben, nehmen manche ihre iPads mit in die Pause. Die Lehrerin habe Paul angesprochen und ihm gesagt: „Leg das Ding mal weg. Das ist wie ein Radiergummi für dein Gehirn.“
* Benno Wilker und sein Sohn Paul haben eigentlich andere Namen. Die Familie möchte aber anonym bleiben. Ihre echten Namen und der Name der Schule sind der Redaktion bekannt.
Gesprächskonzept „Menschen über Medien“:
- Daniel Schlep ist Medienpädagoge und Medienhistoriker. Sein Ziel ist es, Kompetenz, Kreativität und Kritikfähigkeit im Umgang mit Medien zu schaffen. Dazu war er bereits mit einer Vielzahl von Organisationen, Magazinen, Verwaltungen und Schulen in ganz Deutschland aktiv.
- Schlep hat über viele Jahre Gespräche mit Menschen über Medien geführt. In seinem Gesprächskonzept „Menschen über Medien“ möchte er ihnen mit ihren Fragen, ihren Ängsten und ihrer Kritik eine Stimme geben – auch anonym.
- Die fortschreitende Digitalisierung werde, so Schlep, oftmals von offiziellen Stellen naiv und unreflektiert behandelt. Viele Menschen würden sich gern äußern, sähen sich allerdings dem Druck des Mainstreams ausgesetzt.
- Der Titel „Menschen über Medien“ zeigt auf, dass Menschen über Medien sprechen und zeitgleich generell über Medien stehen sollten.
- Zu erreichen ist er unter info@danielschlep.de, Infos gibt es auch auf seiner Internetseite unter www.danielschlep.de.
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