Ein Leben unter dem Damokles-Schwert
Erbkrankheit Chorea Huntington
Kontakt mit den anderen Bewohnern in dem kleinen Pflegeheim in Fröndenberg hat Dirk noch nie gehabt. Wie denn auch? Die anderen sind meist über 80 Jahre alt, er ist gerade mal 55. Die anderen essen im Speisesaal, gehen mit dem Rollator über die Gänge. Dirk kann das nicht.
Dirk sitzt in einem Spezialsessel, manchmal zucken seine Hände oder Füße, die Nahrung kommt durch eine Sonde in seinen Körper, weil ihm so gut wie kein Muskel mehr gehorcht. Und dennoch arbeitet sein Gehirn noch weitgehend normal. Hoffnung auf Besserung gibt es nicht. Dirk leidet unter Chorea Huntington, einer tückischen Erbkrankheit.
Großvater kränkelte Zeit seines Lebens
Über wie viele Generationen seiner Familie es die Krankheit schon gab, weiß niemand. Erst als seine Mutter in den späten 70er-Jahren erkrankte, konnte man auch den frühen Tod ihres Vaters einordnen. Der hatte sich nach dem Krieg bei einem Arbeitsunfall den Rücken schwer verletzt und kränkelte Zeit seines Lebens. Dass seine Verletzung und der Tod nichts miteinander zu tun haben könnten, daran habe damals niemand gedacht, erzählt Dirks Vater, Paul-Gerhard.
Der 81-jährige Kaufmann, der einst große Firmen führte, pflegt seit nunmehr 29 Jahren Familienangehörige, erst seine Frau und jetzt seinen Sohn. Das hat Spuren hinterlassen, seelisch, körperlich, aber auch finanziell. Vom schmucken Eigenheim zog er über die behindertengerechte große Wohnung vor Kurzem in eine kleine Wohnung in Schwerte-Ost.
Von dort aus fährt er fast täglich ins Pflegeheim nach Frömern, redet mit Dirk, sorgt für einen beruhigenden Alltag. Das Unglück begann 1977, als Ehefrau Ruth die ersten Symptome der Krankheit spürte. Die Beine fühlten sich taub an. Die bis dahin kerngesunde Frau ging plötzlich schwankend. Doch es sollte noch eine ganze Zeit dauern, bis die Diagnose feststand: Chorea Huntington.
8000 Menschen in Deutschland betroffen
Nach Angaben der Deutschen Huntington-Hilfe sind rund 8000 Menschen in der Bundesrepublik von der Krankheit, die große Teile des Gehirns zerstört, betroffen. Neben der Steuerung der Muskeln sind von der Krankheit auch Bereiche des Gehirns betroffen, die für die Gefühle zuständig sind. So geht die Huntington-Krankheit, wie sie heute offiziell genannt wird, fast immer mit depressiven Schüben einher. Meist bricht Huntington zwischen dem 35. und dem 45. Lebensjahr aus. Rund 15 Jahre dauert der Krankheitsverlauf, der immer tödlich endet.
Seit der Diagnose der Mutter schwebt dieses Damoklesschwert über Dirk. Nie ging er eine echte Beziehung ein, dafür nutzte er nahezu jeden Sommer für eine große Reise. Spitzbergen, das Nordkap, Petersburg, die Lofoten – Fotos seiner Urlaube hängen in einem Bilderrahmen als Collage an der Wand. Und im Schrank liegen zahlreiche Alben, die hat er zusammengestellt, als er sich noch selbst bewegen konnte. Daneben Schalke-Tassen, Schalke-Gläser und eine Dokumentation der Spiele, zu denen er noch selbst gefahren ist.
Heute verfolgt Dirk seinen Verein auf Sky. Der Dekoder mit dem Bundesligaprogramm gehört zu dem minimalen Luxus in seinem Zimmer. Die Fernsteuerung könne er noch alleine bedienen, bestätigt Dirk auf mehrmaliges Nachfragen. Noch kann er reden, aber die einzelnen Sätze machen ihm Mühe. Lieber antwortet er mit Ja oder Nein auf die Fragen.
Nächtelange Gespräche
„Nach der sicheren Diagnose bei meiner Frau hatte mir der Arzt geraten, ich sollte Dirk nicht gleich sagen, dass er eine Risikoperson ist“, erzählt sein Vater. Doch dann bekam Dirk es selbst raus, und alles wurde noch schlimmer. Nächtelang hätten sie darüber geredet. Dirk beschließt, sein Leben so gut wie möglich zu meistern. 1990 stirbt seine Mutter mit nur 58 Jahren. Acht davon war sie ein Pflegefall. Mit diesem Schrecken vor Augen, geht Dirk sein Studium an. Er wird Informatiker, arbeitet als SAP-Entwickler.
2006 spürte Dirk dann zum ersten Mal, dass seine Beine auch taub wurden. Eine Freundin besorgte ihm eine Therapie. Die kann allerdings nur lindern. 2009 kommt es dann zu einem größeren Ausbruch. Ausgerechnet bei einem Seminar kann der IT-Spezialist die Tastatur nicht mehr bedienen. Von diesem Tag an ging er nicht mehr zur Arbeit. Dirk war gerade 48 Jahre alt und plötzlich schwerbehindert.
„Wir sind sofort zur Uniklinik nach Bochum“, erzählt sein Vater. Seitdem ist Dirk permanent in Behandlung. Reha, Klinikaufenthalte und Tagespflege – sein Vater Paul-Gerhard hat alles protokolliert. Gesprächsnotizen, wann kam es zu Depressionsschüben, wann ging es Dirk besser.
Sogar Briefpapier hat er sich angefertigt, mit seinem Namen und dem Zusatz, Vater des Huntington-Erkrankten mit Vollsorge/Generalvollmacht und Patientenverfügung. Überhaupt will er sich dafür einsetzen, dass es mehr Selbsthilfe-Gruppen gibt. Dabei geht es den Schwertern noch gut, denn die Bochumer Uniklinik gehört zu den wenigen Spezialzentren für die Krankheit in Deutschland. Dort wurde auch gentechnisch festgestellt, dass es sich um Huntington handelt. Eigentlich könnte man heutzutage bereits früh diagnostizieren, wer erkrankt und wer nicht.
Huntington ist eine autosomal-dominant vererbte Krankheit. Dies bedeutet, dass die Nachkommen eines Betroffenen mit einer Wahrscheinlichkeit von mindestens 50 Prozent ebenfalls betroffen sein können. Und genau dort liegt das Problem. Während man dem einen Teil der Patienten Beruhigung verschafft, stürzt man die andere Hälfte in ein tiefes Tal. Denn die Krankheit überspringt keine Generation, das heißt, alle Kinder wissen um den schrecklichen Tod ihrer Eltern.
Krankheit endet
In der Familie von Paul-Gerhard und Dirk wird die Krankheit wohl mit dem Sohn enden. Denn Dirk hat keine Nachkommen, die von ihm die Krankheit erben könnten. Über seine Zukunft macht sich Dirk wenig Illusionen. Eine heilende Therapie ist noch nicht gefunden. Er lebt eher von Schalke-Spiel zu Schalke-Spiel. Oder für einen kleinen Pudding am Nachmittag, den er trotz Magensonde noch schlucken kann. „Und hier im Heim sind ja alle nett“, sagt er zum Abschied.
Auf dem Heimweg erzählt Paul-Gerhard: „So aufgeräumt war er schon lange nicht mehr.“ Und für solche Augenblicke lebt der Vater.
Sie ist eine fortschreitende Erkrankung, die meist zwischen dem 35. und 45. Lebensjahr ausbricht. In seltenen Fällen kann sie auch in der frühen Kindheit oder im höheren Alter auftreten.
Viele Patienten leiden unter neurologischen Störungen, beispielsweise Bewegungsstörungen oder psychischen Veränderungen wie Verhaltensstörungen.
Im fortgeschrittenen Stadium kommt ein Rückgang der intellektuellen Fähigkeiten hinzu.
Ursache ist ein verändertes Gen (Genmutation).
Bisher kann die Huntington-Krankheit nicht ursächlich behandelt werden. Mehr Informationen unter