Die Führungsriege des SC Hassel hatte sich in der Geschäftsstelle des Oberligisten versammelt und beugte sich über einen auf dem Schreibtisch ausgebreiteten Lageplan der Sportanlage Lüttinghof im Gelsenkirchener Norden. Die Frage war genauso spannend wie heikel: Wie könnte es gelingen, den in der kommenden Saison zu erwartenden Ansturm der vielen Schalke-Fans sicherheitstechnisch zu bewältigen?
Lage war noch ernster als heute
Das war im Frühjahr 1989, die Oberliga war damals die dritthöchste Liga, und Andreas Müller hat durchaus Verständnis für die Planspiele der Hasseler Chefetage: „Unsere Lage“, so der heute 61-Jährige, „war ja auch ernst“.
Tabellarisch sogar noch ernster als heute, schließlich haben die Königsblauen in der Zweiten Liga derzeit immerhin zwei Punkte Vorsprung auf den Relegationsplatz und drei Zähler auf einen direkten Abstiegsplatz. Auf dem verharrte Schalke damals, das Abstiegsgespenst war also schon deutlich intensiver auf Tuchfühlung, der erstmalige Absturz ins Amateurlager mehr als eine fiese Fantasie.

„Noch grün hinter den Ohren“
Mittendrin: Andreas Müller in seinem ersten Schalke-Jahr. „In der Saison davor war Schalke aus der Ersten Liga abgestiegen – mit einer Mannschaft, die nicht hätte absteigen dürfen, unter anderem mit Olaf Thon und Toni Schumacher“, erinnert sich Müller. „Als FC Schalke 04 galten wir dann automatisch als einer der Aufstiegsfavoriten, aber der waren wir nicht. Präsident Oskar Siebert hatte wohl auch aus finanziellen Gründen eine ganz junge Mannschaft zusammengestellt, da waren einige noch grün hinter den Ohren. Mit 26 Jahren war ich der Älteste, dann kam Ingo Anderbrügge, mit Werner Vollack hatten wir einen Routinier im Tor – das war‘s dann aber schon an Erfahrung. Damit konntest du nicht aufsteigen.“
Franz, Ferner, Kremers, Neururer
Im Gegenteil. Schalke kam überhaupt nicht in die Gänge, trennte sich relativ schnell von Trainer Horst Franz, dem man trotz des Abstiegs in der Vorsaison das Vertrauen geschenkt hatte.
Mit „Didi“ Ferner übernahm ein Coach, der seit Mitte der 80-er Jahre auf Schalke einen hervorragenden Ruf genoss, weil er 1984 mit den Blau-Weißen aufgestiegen war und beim 6:6-Jahrhundertspiel gegen die Bayern im Pokal Regie auf der Bank geführt hatte.

„Wir wären runtergegangen“
„Mit Didi Ferner haben wir uns zunächst auch stabilisiert“, blickt Müller, damals Kapitän, zurück, „aber dann kippte es wieder in die falsche Richtung. Didi Ferner war ein hervorragender Trainer, ich habe ihn sehr geschätzt und gemocht. Aber es kam der Zeitpunkt, da hat seine Art der Ansprache an die Mannschaft nicht mehr gepasst. Für mich steht fest: Wir wären runtergegangen!“
Runter? Dritte Liga? Schalke? Für Günter Eichberg keine Option. Der Privatkliniken-Besitzer war Anfang 1989 zum S04-Präsidenten gewählt worden und steuerte dem drohenden Absturz konsequent entgegen.
Dass er untersagte, die aktuelle Tabelle in der Vereinszeitung „Schalker Kreisel“ abzudrucken, ist nur ein unbestätigtes Gerücht. Fakten schufen Eichberg und Manager Helmut Kremers dann allerdings auf der Trainer-Position: Der erfahrene Didi Ferner wurde beurlaubt und mit Peter Neururer ein junger Trainer verpflichtet.
„Nach Schalke notfalls zu Fuß“
Der hatte bereits versprochen, „dass er nach Schalke notfalls zu Fuß kommen würde“, was ihm angesichts seines Wohnortes in Buer, also unweit des Parkstadions, nicht schwer gefallen wäre.
Der junge, selbstbewusste, sich unkonventionell und forsch präsentierende Neururer passte jedenfalls genau ins Raster von Eichberg, der sich für die vor sich hin schwächelnde Mannschaft einen „Troubleshooter“ gewünscht hatte – und bevor die Schalker Vereinsfamilie recherchiert hatte, das sich hinter dieser spektakulär klingenden Vokabel im Prinzip nichts anderes als ein „Problemlöser“ verbergen würde, hatte Eichberg Neururer schon vom Zweitliga-Konkurrenten Alemannia Aachen, der damals durchaus noch Aufstiegsambitionen hatte, losgeeist.
„Peter hat uns sofort gepackt“
Das rettende Ufer war für Schalke, obwohl Helmut Kremers als Interimstrainer zwischendurch einen Sieg gegen Saarbrücken eingefahren hatte, schon ein Stück weit entfernt.
„Aber Peter hat uns sofort gepackt. Seine Art, uns stark zu machen und stark zu reden, war genau das, was die Mannschaft gebraucht hat. Peter Neururers Anteil am Klassenerhalt ist gar nicht hoch genug einzuschätzen“, lobt Müller den damals 34-jährigen Trainer: „Wenn du ihm zugehört hast, hast du am Ende wirklich geglaubt, dass du stärker bist als dein Gegenspieler. Peter konnte so überzeugend sein, dass der ganze Verein ihm zu dieser Zeit im Prinzip aus der Hand gefressen hat.“
„Kommunikation ist wichtig“
Und wie sieht Müller, im damaligen S04-Kader neben Ingo Anderbrügge und Jens Lehmann einer von drei späteren „Eurofightern“, die Schalker Lage heute? Müller will sich grundsätzlich raushalten, „weil ich aus meiner Zeit als Manager auf Schalke weiß, wie das ist, wenn sich ständig von Außen Leute zu Wort melden, die alles besser wissen“.
Nur soviel: „Auch aus der Erfahrung von 1989 weiß ich, dass Sprache und Kommunikation mit den Spielern ab einem gewissen Zeitpunkt ganz wichtig sind. Du musst die Spieler irgendwie packen. Ich hoffe, dass das auf Schalke nicht zum Problem wird. Und du musst im Training die Intensität vorleben, die du im Spiel brauchst. Die Spieler müssen den Ernst der Lage spüren.“

„Es kam fast zur Meuterei“
So wie die Schalker Profis im Frühjahr 1989. Müller kann heute darüber schmunzeln: „Wir hatten eine zweiwöchige Pause, weil wir das Heimspiel gegen Fortuna Köln in Hannover austragen mussten. Als Strafe dafür, dass Schalker Fans nach unserem Spiel gegen Darmstadt den Schiedsrichter attackiert hatten.“
Die Pause kam dem Präsidenten gerade recht. Andreas Müller: „Günter Eichberg wollte ein Zeichen setzen. Und er sagte: ,Jetzt ist Schluss mit den Fünf-Sterne-Hotels‘. Da waren wir vorher zwar auch nicht, aber dann wurde ein Kurz-Trainingslager in Bad Bertrich angesetzt. Die Unterkunft war unter aller Kanone, das Gegenteil von fünf Sternen, auch hygienisch sehr fragwürdig. Es kam fast zur Meuterei. Und wir haben trainiert wie die Verrückten, ich kann meine Beine heute noch spüren, wenn ich daran denke. Aber das hat uns zusammengeschweißt.“
Der „Geist von Bad Bertrich“
Beflügelt vom „Geist von Bad Bertrich“ schaffte Schalke den Klassenerhalt, der allerdings kein Selbstläufer war. Neururer führte die Mannschaft am Ende auf Tabellenplatz zwölf, was komfortabel klingt. Aber der Vorsprung auf die Abstiegsplätze betrug (damals galt die Zwei-Punkte-Regel) lediglich zwei Zähler.
Die Rettung wurde erst im Juni perfekt gemacht durch einen 4:1-Sieg gegen Blau-Weiß Berlin - am vorletzten Spieltag. Günter Eichberg hatte das Spiel an einen japanischen Automobilhersteller verkauft, im Gegenzug kamen die Zuschauer in den Genuss ermäßigter Eintrittspreise. So feierten im Parkstadion 66.000 Besucher den Schalker Klassenerhalt. In den meisten Heimspielen davor konnte Schalke froh sein, wenn mehr als 10.000 Zuschauer in die Betonschüssel pilgerten.
Zwei Jahre später aufgestiegen
Zwei Jahre später stieg Schalke dann wieder in die Erste Liga auf. Die Sicherheitspläne des SC Hassel waren längst in der Schublade verschwunden.
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