Amtssekretär Pieper sitzt vollständig angekleidet auf dem Sofa. Es ist mitten in der Nacht, Schlafenszeit. Doch er erwartet kurz nach Mitternacht an diesem gerade angebrochenen Karfreitag im Jahr 1945 den Einmarsch der Amerikaner.
Schon seit Wochen hat sich auch in Nordkirchen die Gewissheit breit gemacht, dass der vom Deutschen Reich begonnene Krieg mit einer Niederlage enden wird. Im zurückliegenden Jahr, das das letzte Kriegsjahr gewesen sein wird, hat es im Dorf 215-mal Fliegeralarm gegeben. Der hektische Gang in die Bunker, das nervenaufreibende Bangen um Leben und Besitz: Auch für die Landbevölkerung in der Schlossgemeinde war das 1945 trauriger Alltag.
Schon seit einigen Tagen liegt Ende März 1945 in der Luft, dass der Krieg bald ein Ende haben wird, Deutschland sich geschlagen geben muss. Am Gründonnerstag ist sich Amtssekretär Pieper dann so sicher, dass die Amerikaner kommen, dass er nicht einmal zu Bett geht.
Kriegslärm war schon Tage vorher deutlich zu hören
„Schon Tage vor dem Einmarsch der Amerikaner war der Kriegslärm deutlich zu hören und versetzte die Bevölkerung in Angst und Unruhe. An ein normales Leben war zu diesem Zeitpunkt schon lange nicht mehr zu denken“, schreibt Sabine Alfing in dem Buch „Krieg - Flucht - Frieden“. Das hat der Heimatverein Nordkirchen 70 Jahre nach dem Kriegsende herausgegeben: eine umfassende Sammlung zum Kriegsgeschehen in Nordkirchen. Neben Artikeln von vielen Autoren des Heimatvereins enthält es auch zahlreiche Berichte von Menschen aus Nordkirchen, Südkirchen und Capelle, die lebhaft an das lokale Geschehen während des Krieges erinnern.
„Etwa um Mitternacht zog ein erster Panzerspähtrupp der Amerikaner aus Richtung Lüdinghausen kommend in Nordkirchen ein. Der damals 14-jährige Bernhard R. hatte, schwankend zwischen Neugier und Angst, den als
Bunker genutzten elterlichen Keller verlassen und stand hinter der Haustür, als ein mit einem Maschinengewehr bewaffneter Amerikaner die Bergstraße hinaufkam und ihn entdeckte. Er wies den Jungen in gebrochenem Deutsch an, wieder ins Haus zu gehen, und erkundigte sich nach dem Verbleib des Bürgermeister Heinrich Zurstiege“, schreibt Sabine Alfing.
Jener Bürgermeister - natürlich ein Nazi - hatte ich schon längst aus dem Staub gemacht, war, so schreibt es Alfing, um belastendes Aktenmaterial zu vernichten.

Von seinem Haus am Kirchplatz aus hört auch Amtssekretär Pieper die Panzer - und tritt vor die Tür. Ob Nordkirchen noch verteidigt werde, wollen die amerikanischen Soldaten von ihm wissen. „Er verneinte die Frage wahrheitsgemäß, musste sich jedoch solange, bis die Besatzer sich selbst davon überzeugt hatten, an eine Wand stellen und wurde mit Waffen bedroht. Danach durfte er in seine Wohnung zurückkehren, wurde aber bereits um vier Uhr wieder aus
dem Haus geklingelt. Vor der Tür stand zusammen mit zwei Soldaten der im Dorf als erbitterter Gegner des Nationalsozialismus bekannte Schneider Heinrich Hölscher, dem Gemeindeunterlagen und eine Liste von Parteiangehörigen ausgehändigt werden sollten. Hitlerbilder und Hakenkreuzfahnen wurden bei dieser Gelegenheit ebenfalls beschlagnahmt“, so Sabine Alfing in dem Buch.
Noch in der gleich Nacht marschierten die Amerikaner dann nach der Einnahme Nordkirchens weiter in die beiden Ortsteile Südkirchen und Capelle. Auch aus Richtung Selm und Herbern kamen Truppen der Alliierten.
Amerikanische Soldaten verschenkten Schokolade
„Josef Q. konnte in mondheller Nacht die anrückenden Panzer aus seinem Elternhaus in Südkirchen beobachten. Als abenteuerlustiger 13-Jähriger verließ er das Haus und lief zum Kriegerdenkmal, wo ein Spähwagen Halt gemacht hatte“, schreibt Sabine Alfing. Der amerikanische Soldat, so erzählte der Südkirchener, schenkte ihm ein Stück Schokolade. Und rüttelte so natürlich auch sein Weltbild durcheinander - war er doch in einem von Nationalsozialismus und Rassismus geprägten Deutschland aufgewachsen.
Mit Schokolade, so erinnert sich auch Johanna T. aus Capelle in dem Buch des Heimatvereins, geizten die Amerikaner sowieso nicht. Sie seien kinderlieb gewesen und kamen mit der Bevölkerung gut zurecht, beschreibt Sabine Alfing.
„Ein Teil der amerikanischen Soldaten quartierte sich in Nordkirchen ein und bildete die örtliche Besatzungstruppe. Zu diesem Zwecke mussten vor allem die Wohnungen ehemaliger Parteigrößen sowie auch die Gasthäuser geräumt und zur Verfügung gestellt werden“, heißt es weiter in ihrem Artikel.
Auch die Herzogin musste ihre Gemächer räumen
Auch vorm Schloss Nordkirchen machten die Besatzer natürlich nicht Halt, wie ein Foto zeigt, das der Nordkirchener Werner Overbeck den Ruhr Nachrichten aus seinem Archiv zur Verfügung gestellt hat. Panzer sind da im Innenhofes des Schlosses zu sehen. Die damaligen Bewohner und Besitzer des herrschaftlichen Hauses waren Herzog Engelbert von Arenberg und seine Frau Valerie Marie. „Als Kommandant William C. Gibson die Herzogin bat, ihre Suite mit 14 Zimmern für die Unterbringung erschöpfter Soldaten zur Verfügung zu stellen, schlug sie vor, die Amerikaner in einem verkommenen Teil des Gebäudes, der einst von deutschen Truppen genutzt wurde, unterzubringen“, haben die Ruhr Nachrichten 2010 in einem Bericht zum Kriegsende geschrieben.
Die Herzogin musste am Ende aber nachgeben - und teilte so zur Abwechslung mal das Schicksal vieler Bauern der Gegend, die ihren Hof für die Besatzer räumen mussten. Auf dem Hof Kasberg zum Beispiel war das so, wie Hugo Kasberg, der damals zehn Jahre alt war, sich in einem Beitrag im Buch des Heimatvereins erinnert.
Den Ostersonntag schildert er so: „Innerhalb kürzester Zeit rollten elf Panzer und einige Fahrzeuge an und postierten sich rund um das Haus. Die Soldaten waren sehr freundlich. Beim Aushängen von Weidetoren für die freie Durchfahrt der Panzer wurde mein Vater durch einige Soldaten unterstützt. Die gute Gelände- und Straßenübersicht von unserem, auf einer kleinen Anhöhe gelegenen Haus, veranlasste die Besatzer wahrscheinlich, hier einen Verteidigungspunkt einzurichten. Sämtliche Panzergeschützrohre wurden in alle Richtungen ausgerichtet und zunächst mit je einem Soldaten besetzt.“
Das Ende des Krieges verlief in Nordkirchen aber unblutig - für die vorangegangenen Jahre gilt das aber natürlich nicht. Im Zweiten Weltkrieg haben auch viele Nordkirchener, zumeist junge Männer, ihr Leben verloren. An sie erinnert ein Denkmal in der Nähe des Friedhofs in Nordkirchen.
Jüdisches Leben in Nordkirchen
Stolpersteine sucht man in Nordkirchen ohne Erfolg, wie Hubert Kersting, der Vorsitzende des Heimatvereins, bestätigt. Schwer sei es, zurückzuverfolgen, wo vor der Machtergreifung der Nationalsozialisten Menschen jüdischen Glaubens in der Gemeinde gelebt haben könnten - welchen Verbrechen sie zum Opfer gefallen sind.
„Es gibt natürlich die Geschichte von Marga Spiegel“, sagt Hubert Kersting. Sie hatte sich zusammen mit ihrem Mann und ihrer Tochter - weil sie als Juden verfolgt wurden - während des Krieges auf verschiedenen Bauernhöfen in Werne, Ascheberg und Capelle versteckt. Die Bauern schützen sie - und ermöglichten ihnen so das Überleben. Eine wahre Geschichte. Eine besondere Geschichte - die aber leider nicht beispielhaft ist für das Geschehen im Rest des Deutschen Reichs. Sechs Millionen Juden starben durch die Verbrechen der Nationalsozialisten.
Hinweis der Redaktion: Dieser Artikel erschien ursprünglich im April 2020.
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