Wer in NRW arm ist, stirbt jünger
Heimat-Check
Wer weniger Geld verdient, Schulden hat oder Arbeitslosengeld II bezieht, stirbt früher - Männer noch eher als Frauen. Besonders drastisch fallen die Ergebnisse zu sozialer Ungleichheit und Gesundheit mitten im Ruhrgebiet aus. Warum ist das so? Wir haben die Daten visualisiert und einen Experten interviewt.
Erstellt mit freundlicher Hilfe von Marius Hunsche. Autor des Codes ist Pierre-Jean Guéno.
Anders als beim Durchschnittswert werden beim Median nicht alle Daten einer Statistik zusammengerechnet und anschließend durch die Zahl der Fälle geteilt. Um den Median zu ermitteln, werden alle Daten in eine Reihe geschrieben und der Wert exakt in der Mitte dieser Reihe wird als Median festgelegt - hier die Einkommen der Einwohner. Ausreißer nach oben oder unten wiegen im Median weniger schwer als bei der Berechnung von Durchschnittswerten.
Wer von Arbeitslosengeld II - Hartz IV - lebt und Schulden hat, stirbt jünger. Das zeigen Daten, die die Partei Die Linke im Bundestag abgefragt hat. Das Bundesgesundheitsblatt, ein Bericht des Bundesministeriums für Gesundheit, bestätigt das: Wer sozial und finanziell schlechter da steht, wird eher krank und stirbt früher. Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Auswirkungen von Übergewicht sowie psychosoziale Erkrankungen wie Depressionen sind häufiger bei geringem Einkommen.
Besonders betroffen sind strukturschwache Regionen: Teile des Saarlands, Frankens und weitere Teile des Ruhrgebiets. Wie hängen Gesundheit, Einkommen und Schulden zusammen? Wir haben Professor Dipl.-Ing. Stefan Siedentop vom Dortmunder Institut für landes- und Stadtentwicklungsforschung befragt:
Herr Siedentop, warum ist die Lebenserwartung von Menschen in Regionen mit hoher Schuldnerquote und mit mehr Menschen in Arbeitslosengeld II niedriger?
Aus der Gesundheits- und Sozialforschung wissen wir, dass es einen ganz stabilen Zusammenhang gibt zwischen der sozialen Lage von Menschen, ihrem Bildungsniveau und eben bestimmten Gesundheitsgefährdungen. Die Zusammenhänge sind sehr komplex, aber es gibt viele Studien, die deutlich machen, dass Menschen, die in Armut leben, in deutlich höherem Maße psychosozialen Stresssituationen und Belastungen ausgesetzt sind.
Wir sehen einen stabilen Zusammenhang zwischen Bildung, Armut und ungesunder Ernährung sowie Bewegungsmangel. Viele dieser Menschen sind auch höheren Umweltbelastungen ausgesetzt. Das liegt am Wohnungsmarkt - preiswerte Wohnungen, Sozialwohnungen sind häufig höheren Lärmbelastungen ausgesetzt, etwa in der Nähe von Stadtautobahnen.
Das Wohnumfeld und schlechtere Ernährung machen also krank.
Ja. Zudem gibt es einen Zusammenhang zwischen Armut und Suchterkrankungen. Bei Menschen mit geringem Einkommen ist das Rauchen etwa viel verbreiteter als bei Menschen mit höherem Einkommen.
Zwei weitere Faktoren sind, dass zum einen Menschen mit geringem Einkommen oft schwerere körperliche Arbeit haben, in der Arbeitswelt mehrfach belastet sind. Zum anderen gibt es Studien, die belegen, dass die Einführung von Zuzahlungen bei der medizinischen Versorgung dafür gesorgt hat, dass Menschen mit geringerem Einkommen seltener zum Arzt gehen und auch schlechter mit Medikamenten versorgt sind.
Es gibt den Ausspruch "Krankheit macht arm, Armut macht krank". Da ist sicher viel dran. Armut hat oft eine lange Krankheitsvorgeschichte.
Also ist es eine Abwärtsspirale, in die Menschen finanziell und gesundheitlich geraten?
Genau. Ganz viele Personen geraten in solche Abwärtsspiralen, werden krank, das verstärkt Risiken auf dem Arbeitsmarkt, was wiederum sozial belastend ist.
Warum sind Schuldnerquote und der Anteil von Arbeitslosengeld-II-Beziehern in den Städten und Kreisen des Ruhrgebiets und Rheinlands denn höher als etwa im Sauer- oder Münsterland?
Das ist ein Echo, ein Effekt des Strukturwandels, der im Ruhrgebiet deutlich heftiger ausgefallen ist als etwa im Sauerland. Die industriellen Arbeitsplätze sind verloren gegangen, was eine hohe strukturelle Erwerbslosigkeit und mehr Langzeitarbeitslose zur Folge hat. Das bedingt dann auch relativ geringe Einkommensniveaus in vielen Ruhrgebietsstädten, was wiederum ein sozialer Nährboden für Überschuldung und für die Gefahr, in Armut abzurutschen, ist.
Diese Personen können nur schwer wieder in den Arbeitsmarkt eingegliedert werden. Im Ruhrgebiet gibt es diese Fälle viel häufiger als entlang der Rheinschiene und im aufstrebenden ländlichen Raum NRWs.
Städtische Regionen sind anhand der Daten nicht nur schwerer von den Folgen des Strukturwandels betroffen, sondern auch von Krankheit und geringerer Lebenserwartung. Ist es auch die Stadt an sich, die krank machen kann?
Ich würde sagen ja, aber nur sehr bedingt. Die Luft ist in Städten eher belastet als auf dem Land. Zudem sind Menschen in Städten mehr Lärm ausgesetzt. Aber das erklärt nur einen gewissen Teil dieser Unterschiede zu ländlichen Gebieten. Ich denke die Effekte des Strukturwandels in Städten wie Oberhausen, Essen und Dortmund sind gravierender in Bezug auf Armutsgefährdung und die Lebenserwartung der Menschen dort.
Lassen sich seriöse Prognosen treffen, wie lange die Region noch mit diesen Folgen des Strukturwandels zu kämpfen haben wird?
Prognostizieren lässt sich das nicht. Das ist eine Mehr-Generationen-Aufgabe. Die nachfolgenden Generationen werden die Folgen des Strukturwandels noch abarbeiten, sodass wir vielleicht in einigen Jahrzehnten hoffentlich weitestgehend gleichwertige Lebensbedingungen in allen Regionen Nordrhein-Westfalens haben. Aber es gibt sicher auch einzelne Stimmen, die sagen, dass wir eine echte Angleichung der Lebensverhältnisse nie komplett erreichen können.
In vielen Städten und Kreisen mit vielen Menschen in Arbeitslosengeld II und hoher Schuldnerquote ist das Medianeinkommen aber im Vergleich zum ländlichen Raum recht hoch. Wieso scheint das einen geringen Effekt auf die Lebenserwartung zu haben als die negativen Einflüsse?
Das ist ein statistischer Effekt. In Städten wie Düsseldorf haben wir eine große Bevölkerungsgruppe mit geringem Einkommen, die von Armut bedroht ist. Aber wir haben auch ganz viele Menschen, die sehr hohe Einkommen beziehen. Der Median ist da manchmal fehlleitend.
Der Hintergrund ist, das neue gut bezahlte Jobs in den Dienstleistungsberufen entstanden sind - vor allem in Düsseldorf, Aachen, Münster, Köln, teilweise auch in den größeren Ruhrgebietsstädten. Gleichzeitig sind diese Städte jedoch weiterhin in hohem Maße von Armutsproblemen betroffen. Armut und Reichtum existieren anhaltend nebeneinander her.