„Everest“-Expedition in die Seele
Theater Hagen
Die Tragödie um eine gescheiterte Expedition auf den höchsten Berg der Welt bietet den Stoff für eine packende Kurzoper. „Everest“ ist ein starker Abend im Theater Hagen.

Drei Bergsteiger mit psychischem Gepäck (v.l.): Beck Weathers (Morgan Moody), Rob Hall (Musa Nkuna) und Doug Hansen (Kenneth Mattice) Foto: Lefebvre
Was treibt Menschen in die Todeszone? Dorthin, wo der Sauerstoffmangel Körper und Geist mit jeder Sekunde weiter zerstört? Ist es tatsächlich die Suche nach den eigenen Grenzen? Oder doch eher die Flucht vor dem profanen Leben?
Komponist Joby Talbot und Librettist Gene Scheer haben diese Fragen mit einer modernen Kurzoper gestellt. 2015 hatte „Everest“ im texanischen Dallas Uraufführung. Am Theater Hagen ist sie nun erstmals in Europa zu sehen. Am Samstag war Premiere.
Wahre Begebenheiten
Die Handlung basiert auf wahren Begebenheiten: 1996 führte der Neuseeländer Rob Hall eine kommerzielle Expedition auf den Mount Everest. Mit seinem Kunden Doug Hansen gelangte er zwar auf den Gipfel, kam mit ihm aber beim Abstieg in einen Schneesturm und ums Leben.
Ein dritter Bergsteiger, Beck Weathers, musste schon vor dem Gipfel aufgeben, weil er schneeblind wurde. Ihm hatte Hall versprochen, ihn beim Abstieg wieder mitzunehmen.
Dramatische Geschichte
So dramatisch die Geschichte auch ist, für die 75 Minuten kurze Oper bietet sie nur ein äußeres Gerüst für den intensiven Blick in die Gefühlswelten der Beteiligten. Die extremen Belastungen und der Sauerstoffmangel bringen die Männer zum Halluzinieren, spülen dabei verschüttete innere Konflikte frei.
Regisseur Johannes Erath verlegt deshalb die Handlung ins Bergsanatorium aus Thomas Manns Zauberberg-Roman. Das ist zunächst einmal nicht sonderlich originell, erfreut sich die Berghotel-Kulisse doch großer Beliebtheit bei Opernregisseuren. In diesem Fall aber passt sie tatsächlich gut – und löst auch noch ganz praktische Probleme: Etwa dass der eigentlich unsichtbare Chor der tödlich am Berg Verunglückten so ins Bühnengeschehen einbezogen werden kann.
Direkte Interpretation
Erath bietet sehr direkte Interpretationen an: Den Expeditionskunden Doug etwa lässt er nicht nur vor Depressionen, sondern vor einer handfesten Drogensucht fliehen und den „Schnee“ auch als weißes Pulver von der Bühne schniefen.
Aber das passt durchaus zu diesem Stück, das zwar in seelische Grenzregionen vorstößt, aber in Handlung und auch in der Musik sehr greifbar bleibt. Mit abgehobener freitonaler Avantgarde hat Komponist Talbot nichts im Sinn.
Der Berg ächzt
Er ist mit Filmmusik bekannt geworden und das merkt man sehr deutlich. Mit viel experimentierfreudig eingesetztem Schlagwerk wollte er den Berg zum Klingen bringen, was sehr gut gelungen ist. Das gespenstische Ächzen des Eises, die gähnenden Abgründe, in die etwa die Glissandi der Streicher immer wieder hinabfallen, sind überaus plastisch.
Bei den Arien, Duetten und Ensembles dominieren eingängige Melodien und Stilmittel der Minimal Music mit schleifenartigen Wiederholungen. Musa Nkuna (Rob), Kenneth Mattice (Doug) und Morgan Moody (Beck) singen und spielen das Bergsteigertrio mit großer Inbrunst und Überzeugungskraft.