Ukraine-Krise: Wie Scholz mit Doppelstrategie den Konflikt entschärfen will

Konflikt

Am Montag Scholz-Besuch in Kiew, am Dienstag sein Gespräch im Kreml – am Mittwoch Krieg? Der Ukraine-Konflikt mit Russland eskaliert. Scholz stattet beiden Staaten diese Woche einen Besuch ab.

Berlin

14.02.2022, 07:15 Uhr / Lesedauer: 5 min
Bundeskanzler Olaf Scholz reist heute zum Antrittsbesuch nach Kiew.

Bundeskanzler Olaf Scholz reist heute zum Antrittsbesuch nach Kiew. © Kay Nietfeld/dpa

Die von den USA gestreuten Geheimdienstinformationen, wonach der russische Präsident Wladimir Putin am 16. Februar in die Ukraine einmarschieren könnte, sowie der Aufruf von Nato-Staaten, ihre Staatsbürger sollten die Ukraine verlassen, deuten auf eine unmittelbare Kriegsgefahr hin. Aber zugleich ist kaum vorstellbar, dass die Diplomatieoffensive des Bundeskanzlers in Abstimmung mit EU, Nato, USA und Großbritannien völlig ins Leere laufen und Putin direkt danach den Angriffsbefehl geben wird.

Deutsche Diplomaten schätzen am Sonntag die Lage so ein: Der russische Truppenaufmarsch an der Grenze zur Ukraine sei extrem besorgniserregend und gefährlich, aber die Geheimdienstquellen sprächen nicht von einem sicheren Kriegsbeginn am Mittwoch. Die „Stunde der Resignation“ sei noch nicht gekommen. Der CDU-Außenpolitiker Norbert Röttgen sagt: „Auch der amerikanische Geheimdienst kann nicht in den Kopf von Putin schauen.“ Ob und wann Putin in die Ukraine geht, wisse nur er selbst, betont Röttgen im Gespräch mit dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND).

Steinmeier-Appell an Putin

Handelt es sich dann eher um Kriegsgeheul? Um unterschwelliges Angstmachen vor einem Weltkrieg? Um gefährliche Taktik? Was Mittwoch passiere, wisse jedenfalls niemand, heißt es in Regierungskreisen.

Ein Telefonat zwischen US-Präsident Joe Biden und Putin am Samstagabend hat in der Sache „keine grundlegende Veränderung“ gebracht, verlautet anschließend. Während die amerikanische Seite erneut mit „schwerwiegenden Folgen“ für Putin im Falle eines Einmarsches in die Ukraine droht, spricht die russische Seite von „Hysterie“ im Westen.

Der am Sonntag wiedergewählte Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hält in der Antrittsrede für seine zweite Amtszeit dagegen: „Russlands Truppenaufmarsch kann man nicht missverstehen. Das ist eine Bedrohung der Ukraine und soll es ja auch sein.“ Er wisse wohl, sagt Steinmeier, dass autoritäre Herrscher demokratische Institutionen und Entscheidungsprozesse als schwach, das Recht als Bremsklotz ansähen und das Bemühen um Freiheit und Glück der Menschen als naiv. Aber er könne Putin nur warnen, die Stärke der Demokratie zu unterschätzen. Steinmeier appelliert an ihn: „Lösen Sie die Schlinge um den Hals der Ukraine! Suchen Sie mit uns einen Weg, der Frieden in Europa bewahrt!“

Röttgen: Putins Kriegsdrohung „bringt Europa zusammen“

Röttgen meint, Putin habe den festen Willen, die europäische Landkarte zu verändern. Eine andere Landkarte könnte nach Putins Wünschen dem Vernehmen nach in einem ersten Schritt so aussehen: Er verleibt sich nach der Krim die Ostukraine ein. Damit hätte er den Landzugang zum gesamten ukrainischen Staatsgebiet und eine strategisch bessere Ausgangslage für spätere mögliche Aggressionen. Die baltischen Staaten – sie sind Nato-Mitglieder geworden – würden sich dadurch extrem bedroht fühlen und auf besseren Schutz des Militärbündnisses pochen. Die Gefahr einer direkten Konfrontation zwischen der Nato und Russland würde sich verschärfen.

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Röttgen ist überzeugt, dass sich eine permanente Kriegsdrohung für Putin aber eher kontraproduktiv auswirken würde. „Die Nato bekommt wieder Sinn und Funktion. Es bringt Europa zusammen.“ Russland sei in seiner Geopolitik im 19. Jahrhundert verhaftet. Die Amerikaner verfolgten die Abschreckungsstrategie des 20. Jahrhunderts. „Es wird also Zeit, dass Europa das 21. Jahrhundert einläutet und seine Verteidigungsfähigkeit herstellt.“ Röttgen mahnt, perspektivisch sei nicht garantiert, dass jeder US-Präsident Interesse an der Verteidigung Europas habe. Auf Biden könne auch wieder sein Vorgänger Donald Trump folgen.

Antrittsbesuch in Moskau: Kann Scholz den Krieg verhindern?

In der deutschen Politik wird Putin als Taktiker beschrieben – und als solcher gefürchtet. Man traue ihm selbst mit dem jetzigen Truppenaufmarsch viel Bluff zu, um wieder mehr Beachtung zu bekommen und seine Macht auszubauen. Ein großes Problem sei nur, dass Putin zwar ein großer Taktiker, aber kein Stratege sei. So manövriere er sich in eine heikle Lage, aus der er kaum ohne Gesichtsverlust einen friedlichen Ausweg finden könne.

Die Erwartungen an Olaf Scholz sind in dieser Phase der Eskalation riesengroß. Er hat Putin zwar schon einige Mal getroffen – als Finanzminister bei G20-Gipfeln und einst als SPD-Bundestagsabgeordneter, als Putin im deutschen Parlament sprach –, aber noch nie zu einem Vier-Augen-Gespräch. Eigentlich ist das Treffen mit Putin am Dienstag Scholz‘ Antrittsbesuch, doch Zeit zum Kennenlernen ist nicht da. Beide müssen direkt mit der schwierigsten aller Aufgaben beginnen: einen Krieg zu verhindern.

Nord Stream 2 im Kriegsfall nur ein kleines Problem

Scholz will seine in den vergangenen Wochen immer wieder beschworene Doppelstrategie anwenden: Rote Linien ziehen und die Hand reichen. Der Sozialdemokrat wird Putin, wie es aus deutschen Regierungskreisen verlautete, von Angesicht zu Angesicht „schmerzhafte“ Sanktionen für den Kriegsfall androhen. Es ist davon auszugehen, dass er dabei auch auf die umstrittene Ostseepipeline Nord Stream 2 von Russland nach Deutschland eingehen wird – auch wenn Scholz das öffentlich bisher vermieden hat. Denn die Diplomaten betonten am Sonntag noch einmal deutlich die „Geschlossenheit“ von Nato- und EU-Partnern. US-Präsident Joe Biden hatte schließlich bei seinem Treffen mit Scholz erklärt: Greift Russland die Ukraine an, wird es Nord Stream 2 nicht mehr geben.

In deutschen Regierungskreisen sieht man das Aus für die Pipeline im Ernstfall eines Krieges als kleines Problem. Denn wenn es in Europa zu einem Krieg komme, in dem wie immer Menschen getötet und verletzt würden und ihr Zuhause zerstört werde, spiele eine Gaspipeline keine Rolle mehr. Selbst wenn Milliarden von Euro dann unnütz verbaut worden seien.

Westen hofft auf Scholz

„Die Telefondrähte laufen heiß“, sagt ein Diplomat über die Kontakte zwischen Washington, Paris, Brüssel, London und Paris am Wochenende. Das eine sei die Botschaft – auch von Frankreichs Präsidenten Emmanuel Macron – der Deeskalation. Das andere, was am Boden geschehe. Dort stehen Putins Bodentruppen, mehr als 100.000 hochbewaffnete Soldaten, an der Grenze zur Ukraine, dazu die Manöver zu Luft und zu See. Das stehe nicht für Deeskalation, sondern für Destabilisierung. Eine brisante Lage, die außer Kontrolle geraten könne, heißt es in Berlin.

Der deutsche Kanzler gilt als letzter Regierungschef der westlichen Allianz, der noch Brücken nach Russland hat. Scholz werde persönlich deutlich machen, welche Auswege es aus dieser Krise geben könne, sagen Diplomaten. Von einem „besseren Verständnis“ für Russlands Ziele ist sogar die Rede. Das bedeute: Mit Moskau in der OSZE konkrete Themen vereinbaren, im Nato-Russlandrat über spezifizierte Belange beraten, den Minsker Friedensprozess gemeinsam voranbringen.

Dafür spricht er am Montag in Kiew mit dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj. Scholz wird kein Ja zu den gewünschten Waffenlieferungen im Gepäck haben, auch wenn Deutschland mit dieser Haltung weitgehend alleine im westlichen Bündnis dasteht. Allerdings gibt es Bewegung, dass zu einem späteren Zeitpunkt beispielsweise Gerät zu Aufklärung und zur Ausrüstung geliefert werden könnten.

Offensichtlich wird Scholz aber weitere wirtschaftliche Unterstützung für die Ukraine anbieten. Die Bundesregierung wird nicht müde zu betonen, dass Deutschland mit seinen Wirtschaftshilfen im Umfang von zwei Milliarden Euro in den vergangenen sieben Jahren finanziell weit mehr als alle anderen Länder für die Ukraine geleistet habe.

Bartsch für Rückkehr in den „russlandpolitischen Merkel-Modus“

Was kann die Messlatte für einen Erfolg für Scholz sein? Röttgen sagt: „Scholz muss bei Putin den Eindruck hinterlassen, dass der Westen einig ist und dass auch Deutschland entschlossen ist, einen Einmarsch in die Ukraine nicht zu akzeptieren.“ Putin müsse nach dem Gespräch mit Scholz wissen, „dass er Deutschland mit allen Konsequenzen als Partner verlieren wird, wenn er die Ukraine angreift und besetzt“. Und Linken-Fraktionschef Dietmar Bartsch sieht den Kanzler in Rolle, dass er beide Seiten, Kiew und Moskau, zu Zugeständnissen bewegen soll. Es müsse über eine Nichterweiterungsgarantie der Nato gesprochen werden und Moskau im Gegenzeug seine Soldaten zurückziehen, sagt Bartsch dem RND. „Die Bundesregierung sollte in den russlandpolitischen Merkel-Modus zurückkehren.“ Altkanzlerin Merkel habe es verstanden, auch auf Russlands Sicherheitsinteressen einzugehen.

Als Zeichen von Versöhnung und Vermittlung gibt es für deutsche Politiker in Russland und Ex-Sowjet-Republiken immer einen Pflichtbesuch an einem besonderen Ort. Sowohl in Kiew als auch in Moskau wird der Bundeskanzler einen Kranz am Grab des unbekannten Soldaten niederlegen. Eine demütige Geste, eine bittere Erinnerung an das Leid in deutschem Namen während der Naziherrschaft. Und eine Mahnung angesichts der aktuellen Kriegsgefahr. In Diplomatenkreisen heißt es: Scholz werde sein Bestes geben und seine Moskau-Reise nicht der letzte Versuch der Vermittlung sein. Es gehe ihm um diese Losung: Reden, nicht schießen.

dpa/RND

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