Krieg oder Frieden nach dem 20. Februar?
Konflikte mit Russland
Moskau hat ein Ende der Manöver für den 20. Februar angekündigt. Der Westen fürchtet den Übergang von der Übung in den Ernstfall, US-Präsident Joe Biden warnt vor einem Weltkrieg.

Russische und belarussische Truppen haben auf Schießplätzen in Belarus ein gemeinsames Kampftraining abgehalten. © picture alliance/dpa/Russian Defense Ministry Press Service
Mit rund zwei Dutzend Spionageflügen pro Tag verfolgt die Nato derzeit das neue russische Großmanöver an den Grenzen der Ukraine. „Dies ist ein gefährlicher Moment für die europäische Sicherheit“, sagte Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg am Donnerstag (10.2.) bei einem Auftritt vor der Presse in Brüssel. Auf Details der westlichen Aufklärungsmethoden ging er nicht ein.
Über die ungewöhnlich hohe Zahl von westlichen Spionageflügen wird unterdessen auf Plattformen der internationalen Osint-Community berichtet. Private Internetdienste wie Elint News und Osint Technical liefern derzeit rund um die Uhr Erkenntnisse aus öffentlich zugänglichen Quellen („Open Source Intelligence“), die zu einem aktuellen Gesamtbild der militärischen Lage beitragen können. Dazu können Flugdaten ebenso gehören wie Fotos, Videos und Meldungen in sozialen Netzwerken.
Auch Erkenntnisse über westliche Operationen werden auf diese Weise geteilt. So meldeten am Donnerstag gleich mehrere Osint-Quellen den Flug von gleichzeitig vier nuklear bewaffneten US-Bombern von North Dakota zum Luftwaffenstützpunkt Fairford in der englischen Grafschaft Gloucestershire.
Bei Ankunft der Maschinen waren bereits Hunderte Schaulustige und Pressefotografen zusammengekommen. Die Bomber vom Typ B 52 können in großer Höhe selbststeuernde Atombomben ausklinken und werden zur „Weltuntergangsabteilung“ der amerikanischen Luftwaffe gerechnet.
„Aus der Bewegung heraus“ in die Ukraine?
Die Moskauer Regierung teilte mit, sie werde ihre Manöver am 20. Februar wieder beenden. Am gleichen Tag enden auch die Olympischen Winterspiele in Peking.
Westliche Militärs sehen jedoch keinen Anlass für eine Entspannung, im Gegenteil. Die Zeit nach dem 20. Februar werde eine „kritische Phase“ bringen, in der Russlands Staatschef Wladimir Putin womöglich über Krieg oder Frieden entscheiden werde, heißt es in Nato-Kreisen.
Im Norden, Osten und Süden der Ukraine registrieren westliche Aufklärer derzeit die umfangreichsten Transporte schwerer Waffen, die sie je gesehen haben. Militärexperten fürchten einen russischen Zangenangriff: Sämtliche Vorbereitungen dafür seien erledigt, „da ist jetzt nicht mehr viel hinzuzufügen“. Direkt nach dem Manöver könne ein Einmarsch in die Ukraine stattfinden, unter Umständen sogar „aus der Bewegung heraus“.
Offiziere und zivile Mitarbeitende der Nato und der Planungsstäbe in den Hauptstädten der Allianz äußern sich offiziell nicht zur aktuellen Lage. Inoffizielle Einschätzungen werden nur in sogenannten Hintergrundgesprächen weitergegeben, die unter der Bedingung geführt werden, dass die Namen der Quellen nicht genannt werden.
Tickt die Uhr für die Diplomatie?
Aus Gesprächen dieser Art lässt sich derzeit folgendes Bild verdichten:
1. Das Bündnis sieht ein „Fenster für Diplomatie bis zum 20. Februar“ geöffnet. Immerhin habe Putin drei kleine Hoffnungszeichen gegeben: Die Verhandlungen zwischen Moskau, Kiew, Paris und Berlin (Normandie-Format) über den Konflikt in der Ostukraine laufen wieder, wenn auch nur auf Beraterebene.
Eine neue Runde in Berlin in der Nacht zu Freitag (11.2.) blieb jedoch auch nach neunstündigen Diskussionen ohne Ergebnis. Nächste Woche steht ein Besuch von Bundeskanzler Olaf Scholz in Moskau an. Zuvor hatte bereits Frankreichs Präsident Emmanuel Macron mit Putin ausführlich diskutiert, fünf Stunden lang.
2. Zugleich registriert die Nato einen „Aufmarsch Russlands von nie dagewesener Quantität und Qualität“. Das Zusammenziehen von mittlerweile mehr als 130.000 Soldaten sei schon von der Zahl her beispiellos. Mit dem Transport des Luftabwehrsystem S-400 nach Belarus aber schaffe Moskau im Norden der Ukraine auch technisch eine neue Lage.
Ins Schwarze Meer habe Moskau Landungsboote aus dem hohen Norden Europas beordert; Osint-Quellen lieferten Fotos von Kanaldurchfahrten am Bosporus. Kampfflugzeuge vom Typ Su-25SM aus Russlands pazifischem fernen Osten stehen neuerdings im 7400 Kilometer entfernten belarussischen Brest, direkt an der polnischen Grenze.
3. Nato-Fachleute warnen davor, dies alles als bloße „Show of Force“ abzutun. „Frappierend große Kapazitäten logistischer Art“, etwa fürs Brückenlegen und für die medizinische Versorgung, sprächen dafür, dass Moskau sich ausdrücklich die Option einer „Full-Scale Invasion“ vorbehalte, einer groß angelegten Invasion, die auch auf einen Machtwechsel in Kiew ziele und auch nach einem möglichen Blitzkrieg von nur zwei Tagen eine nachfolgende längere Anwesenheit russischer Landstreitkräfte in der Ukraine nötig mache.
Massenflucht als Thema hinter den Kulissen
Hinter den Kulissen der Allianz wird immer mehr über Vorkehrungen für einen möglichen Flüchtlingsstrom aus der Ukraine gesprochen. Da im Fall einer Invasion als erstes die Sperrung des Luftraums zu erwarten ist, wird mit einer Massenflucht auf dem Landweg gerechnet, Richtung Westen. Polen möchte mit diesem Problem nicht alleingelassen werden. Ein Teil der jüngst zusätzlich nach Polen verlegten US-Soldaten soll sich dem Vernehmen nach speziell um dieses Thema kümmern.
Die US-Botschaft in Kiew macht sich zunehmend Sorgen um die eigenen Landsleute. Die Tonart gegenüber Amerikanerinnen und Amerikanern, die sich noch in der Ukraine befinden, wurde geändert: Bislang legte die Botschaft Ihnen nur nahe, eine zügige Ausreise zu erwägen.
Neuerdings heißt es, sie sollten jetzt ausreisen. In der Nacht zum Freitag mischte sich US-Präsident Joe Biden persönlich an dieser Stelle ein und gab den Amerikanerinnen und Amerikanern in der Ukraine zu bedenken, die Dinge könnten schnell außer Kontrolle geraten.
In Sicherheitskreisen heißt es, das Weiße Haus fürchte, wie in Afghanistan militärische Evakuierungsaktionen in der Ukraine zu Gunsten amerikanischer Zivilistinnen und Zivilisten anordnen zu müssen. Dies sei aus außen- und innenpolitischen Gründen nicht gewollt. Biden selbst sagte dem Sender NBC, er wolle nicht, dass in einer solchen Situation amerikanische und russische Soldaten aufeinander schießen: „Dann haben wir einen Weltkrieg.“
In Nato-Kreisen wird in einer ersten Welle mit bis zu einer Million Flüchtlingen gerechnet. Polens Innenminister Maciej Wąsik erwähnte diese Zahl in den letzten Tagen erstmals auch öffentlich und fügte hinzu, es gehe um „echte Flüchtlinge“, denen sein Land schon mit Blick auf die Genfer Flüchtlingskonvention Hilfe nicht verweigern könne und wolle.
Fest steht aber schon jetzt, dass Polen sehr schnell überfordert sein könnte. An die Ukraine grenzen auch die EU-Staaten Rumänien, Slowakei und Ungarn.
Die Regierungen in Estland, Lettland und Litauen sehen sich unterdessen vor allem durch die massiven russischen Truppenbewegungen im angrenzenden Belarus bedroht. Vertreter aller drei Länder sprachen am Donnerstagabend im Bundeskanzleramt mit dem deutschen Regierungschef Olaf Scholz.
Dänemark will „nicht naiv sein“
Dänemark hat unterdessen als erstes Nato-Land offiziell seine Gefechtsbereitschaft erhöht. Ein Bataillon von 700 bis 800 Soldaten wurde bereits zu Beginn der Woche mobilisiert, F-16-Kampfflugzeuge sollen die Insel Bornholm sichern.
Zu ähnlichen Aktivitäten war es bereits zuvor im Nicht-Nato-Land Schweden gekommen. Dort wurde der Hafen von Visby auf der Insel Gotland durch Panzereinheiten gesichert, nachdem russische Landungsboote mehrfach in der Nähe aufgekreuzt waren. Gotland gilt als guter Standort zur Installation von Luftabwehrsystemen, mit denen sich weite Teile der Ostsee kontrollieren ließen.
Die Maßnahmen Dänemarks seien eine Reaktion auf den „inakzeptablen Aufmarsch der russischen Streitkräfte an den Grenzen zur Ukraine“, sagte der dänische Verteidigungsminister Morten Boedskov. Zwar gäbe es keine aktuelle Bedrohung. „Wir dürfen aber auch nicht naiv sein.“
Dänemarks sozialdemokratische Regierungschefin Mette Frederiksen hatte zuvor Waffen an die Ukraine liefern lassen. Die Ukraine selbst transportierte die Ladung von Billund nach Kiew, in einer Antonov, dem größten Transportflugzeug der Welt.
Am Donnerstag (10.2.) kündigte Frederiksen Gespräche mit den USA über einen neuen Verteidigungspakt an. Anders als in den zurückliegenden Jahrzehnten wolle Dänemark nun nach jahrzehntelanger Zurückhaltung auch eine Stationierung amerikanischer Truppen auf dänischem Boden zulassen, sagte die dänische Regierungschefin, die am Vortag mit Bundeskanzler Scholz in Berlin die aktuelle Lage erörtert hatte.
RND
Der Artikel "Krieg oder Frieden nach dem 20. Februar?" stammt von unserem Partner, dem RedaktionsNetzwerk Deutschland.