Tragischer Drahtseilakt Die „Antigone“ im Dortmunder Schauspielhaus ist ein Ereignis

Tragischer Drahtseilakt
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Mit Standing Ovations hat das Publikum den Mut belohnt, das Theaterstück „Antigone“ so ganz anders zu spielen. Herzstück der Inszenierung von Ariane Kareev am Schauspiel Dortmund ist eine doppelte Titelheldin – gespielt von Linda Elsner, verkörpert von Minna Marjamäki am Vertikalseil.

Tatsächlich beschreibt Autor Sophokles im übertragenen Sinne einen Drahtseilakt. König Kreon verbietet es, den gefallenen Anführer Polyneikes zu bestatten, der die Stadt Theben angegriffen hatte. Das ist seiner Schwester Antigone egal. Sie will, dass ihr Bruder nach dem Gesetz der Götter begraben wird. Doch das Gesetz der Menschen bedroht ihr Handeln mit dem Tod. Ihre Schwester Ismene (gut: Antje Prust) wählt das Überleben, Antigone nicht.

Der Sprechchor in der Dortmunder „Antigone“-Inszenierung
Der Sprechchor in der Dortmunder „Antigone“-Inszenierung © Hupfeld

Ein oller Klassiker also, in dem es nur um die Kinder des Ödipus geht? Von wegen. Schon die Textfassung des bekannten Autors Roland Schimmelpfennig holt die Handlung ins Jetzt. Regisseurin Kareev beamte bei der Premiere am Samstag auch den Herrscher Kreon in unsere Zeit. Ekkehard Freye im weißen Mantel mit Schleppe (die Stolpergefahr macht es ihm nicht leicht) agiert mit den raumgreifenden Gesten des Politikers. Wer laut ist, hat Recht, und entwickele er sich auch noch so sehr zum Tyrannen. Unwillkürlich kommt einem US-Präsident Donald Trump in den Sinn.

Bei Kreon macht das Sinn, aber alle Darsteller sprechen am Anfang des eineinhalbstündigen Abends laut. Jede Regung wird mit den Armen illustriert; da wäre etwas weniger Übertreibung mehr gewesen.

Clou des Abends

Erst nach etwas Anlauf gewinnt Linda Elsner in der Titelrolle eine große Intensität. Eindringlich und sehr natürlich spielt Viet Anh Alexander Tran ihren Verlobten Haimon. Alexander Darkow verkündet als Wächter ganz in sich ruhend und traurig das Ende.

Der Clou des Abends ist jedoch, dass Regisseurin Kareev den Tod mitspielen lässt, eine Welt der Seelen hinzuerfindet. Der gefallene Polyneikes liegt zu Beginn auf der Bühne, doch er wird sich schon bald erheben und mit der zweiten „Spiegel-Antigone“ tanzen, als träfen sich die Geister der beiden. Fantastisch, wie die beiden erst 22-jährigen finnischen Artistinnen Anne und Minna Marjamäki diese geschwisterliche Liebe ausdrücken – zudem sie beide zweieiige Zwillingsschwestern sind. Zuschauer und Zuschauerinnen staunen über einen Pas des Deux, vereint mit ihrer akrobatischen Kunst in einer Choreografie von Josa Kölbel. Der Spagat geht hier in die Luft, wir sehen „Handbalancing“ (Handstand auf Stangen) und Artistik am Vertikalseil.

Schönheit des Todes

Kostümbildnerin Petra Schnakenberg verleiht dem Tod bizarre Schönheit. Aus dem Hemd des Polyneikes schauen glitzernde Gedärme heraus. Der sehr gute Sprechchor, der teils im Publikum sitzt, besteht scheinbar aus Verstorbenen.

Über alle Kostüme ist Schimmel gewachsen, manche Menschen haben Verletzungen und Blutflecke. Theben hat ja gerade erst eine Schlacht überstanden. Die Bühne von Nicole Marianna Wytyczak, die durch ihre räumliche Tiefe große Wucht entwickelt, erinnert mit ihren roten Tüchern an Blut.

Überleben oder nicht?

Widerstand gegen einen Tyrannen, Menschlichkeit gegen Paragrafenreiterei, allgemeingültige Gesetze gegen menschengemachte, die Wahl zwischen dem Überleben um jeden Preis und dem Ende eines Märtyrers – schon Sophokles hatte im Jahr 422 v. Chr. schwere Fragen gestellt. Kareev packt mit den Themen Politik, Krieg und Tod noch ein paar Gewichte drauf. Dass es dabei so spannend bleibt, ist ihre Kunst.

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Weitere Aufführungen

Termine: 1. / 28. 2./ 15. 3. / 2. 4.2025; Karten: Tel. (0231) 502 72 22. www.theaterdo.de

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