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Sind Putins Tage an der Macht schon gezählt?
Krieg in der Ukraine
Die Unruhe um Wladimir Putin wächst wegen immer neuer Pannen. „Friedensfreunde“ bei Streitkräften und Geheimdiensten könnten beides beenden: den Krieg und die Herrschaft des Kreml-Chefs.
Für die stolze Armee Russlands geriet der 7. März 2022 zu einem schwarzen Tag. Es begann damit, dass in der Nähe von Charkiw in der Ukraine einer ihrer höchsten Generäle den Tod fand. Generalmajor Vitaly Gerasimow (44) war Stabschef der 41. Armee des Zentralen Militärbezirks Russlands, ein hochdekorierter Mann.
Wie er genau starb, ist unklar. Man habe ihn „liquidiert“, ließ die Geheimdienstabteilung des ukrainischen Verteidigungsministeriums wissen – und fügte der nüchtern gehaltenen Mitteilung ein paar Daten zu Gerasimows Lebenslauf hinzu: Einsatz in Tschetschenien, Einsatz in Syrien, russische Medaille „für die Rückholung der Krim“.
Nato-Militärs im Hauptquartier der Allianz in Brüssel hoben die Augenbrauen. Zwischenfälle wie diese dürften den Russen eigentlich nicht passieren. In jeder Armee der Welt werden die höchsten Befehlshaber besonders geschützt.
Schildbürger in Uniform
Doch es kam noch dicker. Gerasimows Untergebene hatten Mühe, den Tod ihres Obersten den zuständigen Stellen beim russischen Geheimdienst FSB zu melden. Ihr abhörsicheres Kommunikationssystem Era, im vorigen Jahr mit großem Tusch bei der russischen Armee eingeführt, funktionierte nicht. Die Soldaten behalfen sich mit privaten Mobiltelefonen und einer vor Ort erworbenen SIM-Karte.
Der angerufene Geheimdienstmann vom FSB fluchte angesichts der doppelt schlechten Nachrichten von der Front. Das Schlimmste aber folgte erst jetzt: Das komplette Gespräch wurde mitgeschnitten – und anschließend im Internet dokumentiert vom Rechercheportal Bellingcat, das weltweit einen guten Ruf genießt.
Bellingcat-Chef Christo Grozev traute seinen Augen kaum. „Diese Heinis“, höhnte er über die Russen, die ihr superteures Verschlüsselungssystem eigenhändig unbrauchbar gemacht hätten. Era brauche mindestens ein 3G-Netz – die nötigen Mobilfunkmasten rund um Charkiw aber hätten die Russen, um den Ukrainern eins auszuwischen, selbst zerstört.
Geht es noch peinlicher? In Geschichten wie dieser erscheint Wladimir Putins Armee wie eine Ansammlung von Schildbürgern in Uniform. Was dem Laien als Anhäufung kruder militärischer Details erscheint, kratzt inzwischen politisch am System Putin. Erstmals in seinen mehr als 20 Jahren an den Schalthebeln der Macht schwächelt der Kremlherr ausgerechnet im Feld seiner Kernkompetenz, dem Militärischen.
Schon seit Beginn des Einmarsches am 24. Februar beugen sich Experten immer wieder kopfschüttelnd über Bilder einer alles andere als respektgebietenden russischen Truppe. Man sieht liegengebliebene russische Panzer, abgeschossene russische Kampfhubschrauber, billige Walkie-Talkies im Inneren russischer Militärtransporter.
Am 10. März machten Aufnahmen von Drohnenangriffen auf ganze Reihen russischer Panzer die Runde – ohne dass irgendein Versuch russischer Gegenwehr zu sehen ist. Warum keine Luftabwehr die russischen Konvois schützte, bleibt rätselhaft. Erneut blieb der russische Vormarsch stecken. Es mag sein, dass sich Putins Truppen irgendwann nach Kiew durchschlagen. Doch Blitzkrieg, so viel steht fest, geht anders.
Noch in der vorigen Woche setzte Putin voll auf Lügen. In seinem Staatsfernsehen präsentierte Putin eine groteske Komplettverkehrung der Tatsachen, wie eine Romanfigur von George Orwell: „Die militärische Spezialoperation verläuft streng nach Zeitplan, alle gesetzten Aufgaben werden erfolgreich gelöst.“
Erster Sprung in der russischen Schüssel
Hauptberufliche Kremlbeobachter bei westlichen Diensten brachen keineswegs in Gelächter aus an dieser Stelle. Sie deuteten den Auftritt als ernstes Zeichen: Mit größerer Härte denn je wende sich Putin inzwischen nicht mehr nur gegen einzelne Gegner, sondern schon gegen die Wahrheit als solche.
Dazu passt, dass das Wort Krieg nicht ausgesprochen werden darf – und Kritikern der „Spezialoperation“ nach neuen Spezialgesetzen atemberaubende 15 Jahre Straflager winken. Putins Unterdrückungssystem steht unter Spannung wie nie.
Inzwischen aber zeigt sich ein erster Sprung in der Schüssel. Am Mittwoch räumte das Moskauer Verteidigungsministerium ein, dass auch Wehrpflichtige am Einmarsch in die Ukraine teilnahmen, man werde sie jetzt zurückholen.
Die Mitteilung war innenpolitisch eine Sensation: Putin höchstpersönlich hatte eine Beteiligung von Wehrpflichtigen stets geleugnet. Sogar russischen Putin-Fans bleibt jetzt nur die Wahl zwischen zwei für sie unschönen Varianten: Entweder hat Putin gelogen – oder er wurde von seinen Leuten falsch informiert.

Ein Künstler hat ein Graffiti von Putin mit Teufelshörnern und den Farben der Ukraine an einer Wand platziert. © picture alliance/dpa/EUROPA PRESS
Putins Sprecher Dmitri Peskow versuchte zu beschwichtigen: Der Präsident habe bereits „den Militärstaatsanwälten befohlen, gegen die Beamten zu ermitteln und die zu bestrafen, die für die Missachtung seiner Anweisungen zum Ausschluss von Wehrpflichtigen verantwortlich waren“. Stumm blicken Land und Leute auf den Versuch einer nachträglichen Anpassung der Wirklichkeit an das zuvor von Putin Gesagte.
Das Thema Wehrpflichtige ist in Russland emotional stark aufgeladen. Wenn ihre Söhne sich aus unerklärlichen Gründen nicht mehr meldeten, reagierten die Mütter von Wehrpflichtigen schon immer sehr viel heftiger als die Angehörigen von Soldaten, die bei der Armee einen Vertrag unterschrieben hatten. Öffentlicher Protest von Soldatenmüttern war zu allen Zeiten besonders heikel. Sogar Putins brutale Omon-Sondereinheiten haben Skrupel, die Mütter getöteter Soldaten einfach wegzuknüppeln.
Auf höchster Ebene wächst in Russland die Unruhe
Eine der vielen unbeantworteten Fragen lautet jetzt: Welche „Beamte“ sollen es denn gewesen sein, die sich den Anweisungen Putins widersetzt haben? Muss der Präsident nicht am Ende doch Verteidigungsminister Sergej Schoigu entlassen?
In einer Demokratie würden jetzt ein paar Leute gefeuert, mindestens einige Generäle. Zugleich aber gilt, was der amerikanische Russland-Kenner Leon Aron dieser Tage dem Sender NBC sagte: „Putin muss jetzt aufpassen, dass nichts hinter seinem Rücken passiert.“
Würde Putin seine Militärführung entlassen, bestünde nach Einschätzung westlicher Experten das Risiko, dass die Geschassten sich verbünden und ihrerseits gegen Putin vorgehen. Klar ist bislang nur eins: Die Unruhe wächst, auf den allerhöchsten militärischen und politischen Führungsebenen Russlands.
Lehrbuchreif sind in Moskau alle Missstände versammelt, die anderswo in der Welt schon Staatsstreiche motiviert haben: Rückschläge auf dem Schlachtfeld, eine zunehmende wirtschaftliche Katastrophe, verärgerte Eliten. Dennoch warnen Experten in den derzeit eifrig diskutierenden Online-Foren aller Art vor voreiligen Erwartungen. Putin bereite sich seit zwei Jahrzehnten auf die Risiken einer Palastrevolution vor, betont etwa der amerikanische Russland-Experte Adam E. Casey. „Putins Apparat verfügt über diverse Mechanismen, um einen Staatsstreich zu verhindern.“
Putins Angst vor einem Stauffenberg-Szenario
Tatsächlich hatte der frühere KGB-Mann immer schon Angst vor einem Stauffenberg-Szenario. Niemand lässt im Kreml irgendwo unbemerkt eine Aktentasche stehen. Putin beschäftigt eine Vielzahl persönlicher Wachen, handverlesene Köche und Vorkoster sowie ganze Bataillone von Spionen, die nichts anderes zu tun haben, als anderen russischen Spionen und Offizieren so tief wie möglich in die Köpfe zu gucken.
Das Militär war dem früheren KGB-Mann in Wirklichkeit immer suspekt. Deshalb suchte Putin auch seinen Verteidigungsminister vorsichtshalber allein nach Loyalität aus, nicht nach Kompetenz.
Schoigu hatte keinerlei Erfahrung mit der Armee, sondern war ein pragmatischer Minister für Zivilschutz, Notfall- und Katastrophenmanagement, bevor Putin ihm überraschend die Streitkräfte des Landes anvertraute. Schoigu schien die besondere Gunst des Allerhöchsten zu genießen, immer wieder sah man ihn auf Fotos der Staatsmedien auch privat an der Seite Putins, beim Fischen oder Wandern.
Ist es jetzt vorbei mit dem Zusammenhalt der beiden? Gerüchte dieser Art wurden in den letzten Tagen befeuert durch die Tatsache, dass Schoigus Verwandte mütterlicherseits aus der Ukraine stammen, sein Großvater liegt dort begraben. Hegt Putin gegen Schoigu etwa gar den Verdacht der heimlichen Sabotage seines Ukraine-Feldzugs?
Läuft ein Psychokrieg gegen Putin?
Neuerdings ist im Westen von einer angeblichen Fraktion der Friedensfreunde im russischen Militär und Geheimdienst die Rede. Der Gedanken- und Informationsaustausch laufe auf Hochtouren. Das Getuschel ist unbeweisbar und unwiderlegbar zugleich. Läuft hier ein Psychokrieg gegen Putin?
Die ehrwürdige britische „Times“ berichtete, Kriegsgegner innerhalb des FSB hätten mittlerweile schon drei von Putin befohlene Attentate auf den ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj verhindert – durch Hinweise an den britischen Geheimdienst MI6, der derzeit Selenskyi offenbar in besonderer Weise behilflich ist.
Die Gerüchteküche brodelt. Aber auch bloße Gerüchte können eine eigene Kraft entfalten, besonders in Zeiten des Krieges. So heißt es jetzt, einmal habe Putin tschetschenische Kämpfer nach Kiew geschickt, um Selenskyi zu töten, im zweiten Fall Söldner der privaten russischen Gruppe Wagner, Spezialkämpfer, die 3000 Dollar pro Tag und Mitarbeiter abrechnen. Beide Gruppen seien schon bei der Vorbereitung des Anschlags auf Selenskyi zu Tode gekommen, bevor sie auch nur in die Nähe des ukrainischen Präsidenten gerieten – das sei nicht anders erklärbar als durch ein Zusammenspiel der Geheimdienste, an Putin vorbei.
Wer sich an Fakten halten will, muss nur auf Selenskyi blicken. Noch lebt er – obwohl Putin ihm den Tod wünscht. Für den in Moskau geborenen amerikanischen Russland-Kenner Leon Aron steht fest: „Jeder Tag, den die Ukraine standhält, untergräbt Putins Regime.“
Der Artikel "Sind Putins Tage an der Macht schon gezählt?" stammt von unserem Partner, dem RedaktionsNetzwerk Deutschland.