Sexpositiv: Eine Einstellung statt einfach ein Trendwort
Kolumne
In seiner Kolumne spricht Christopher Filipecki regelmäßig über Psychologie und Zwischenmenschliches. Heute befasst er sich mit einem Thema, das immer noch ein Stück weit tabuisiert wird.
Eigentlich war die sexuelle Revolution doch schon 1968. Das ist 54 Jahre her. Seitdem hat sich in vielerlei Hinsicht einiges getan. Manches ist besser geworden, anderes irgendwie stehen geblieben. Deswegen lautet die Devise: Seien Sie sexpositiver!
Sexpositiv: Was steckt dahinter?
Ein Trendwort, das Ihnen in der letzten Zeit bestimmt immer mal wieder begegnet ist. Doch was bedeutet es eigentlich genau? Geht es darum, alles mitzumachen und zu allem „Ja“ und „Amen“ zu sagen?
Nein, ganz und gar nicht. Sie müssen jetzt nicht nach irgendwelchen unauthentischen, wilden Seiten in Ihnen suchen und Dinge ausprobieren, nur weil es Ihre Freunde auch schon getan haben. Stattdessen geht es aber darum, das, was in Ihnen schlummert, anzunehmen, nicht mit Scham zu behaften und auszuleben.
Facettenreichtum: Jeder macht sein Ding
Mit Sicherheit kennen Sie folgende Situation: Sie schauen einen Spielfilm, es kommt eine heiße, intime Szene. Einerseits wünschen Sie sich eine ähnliche Erfahrung herbei, andererseits fühlen Sie sich nach dem Anschauen schlecht, weil Sie laut BMI kein Idealgewicht haben, Ihre Haut nicht mehr so schön aussieht wie früher und der dicke Bauch auch nicht mehr weggeht.
Überall sehen Sie nur noch Menschen, die in Ihren Augen viel besser aussehen als Sie. Die dürfen auch solche prickelnden Erlebnisse haben, Sie aber mit Ihrer Optik nicht. Ein Gefühl, was einen dermaßen beschäftigen und einschränken kann, dass man irgendwann aus der schönsten Nebensache der Welt komplett aussteigt.
Nehmen Sie sich so an, wie Sie sind
Genau hier setzt der Gedanke der Sexpositivität an. Jeder Mensch hat einen Anspruch auf Zweisamkeit und Intimität. Jeder. Ausnahmslos. Dabei ist ihre Optik egal, ihr Schulabschluss, wie gut ihr Konto gefüllt ist, aus welchem Elternhaus Sie kommen und was Sie zuvor erlebt haben – Sie haben ein Anrecht auf körperliche Liebe. Ob Sie es viel und oft brauchen, wenig und selten oder vielleicht sogar gar nicht, bleibt Ihnen überlassen. Jede Option ist genau gleich gut.
Sexpositiv zu sein bedeutet, sich nicht dafür zu schämen, dass man nicht dem typischen, gesellschaftlichen Schönheitsideal entspricht, aber dennoch Spaß bei der Sache hat. Menschen mit Übergewicht dürfen sich genauso oberkörperfrei zeigen wie Menschen mit einem Sixpack. Genauso gehört aber auch dazu, dass man als Frau einen Minirock auf einer Party tragen darf, ohne einen abwertenden Stempel zu erhalten. Streichen Sie also das „Die ist bestimmt leicht zu haben“ aus Ihrem Kopf – für immer. Es ist einfach ein Outfit, alles andere ist Ihre Interpretation.
Scham als Lustkiller
Es geht jedoch nicht nur um die Figur, sondern auch um Vorlieben. Sie haben einen Fetisch, von dem Sie eigentlich wissen, aber ihn nicht ausleben, weil er Ihnen unangenehm ist? Sie haben Angst abgelehnt zu werden, wenn Sie ihn äußern? Zur Sexpositivität gehört eben auch, dass man seine Vorlieben ausleben darf, solange – und das ist ganz wichtig – sie im beidseitigen Einverständnis passieren. Selbstredend darf man keine andere Person zu irgendetwas zwingen oder Gesetze brechen.
In diesem Zusammenhang sollte kurz der Begriff „Konsens“ Erwähnung finden. Viel Achtsamkeit ist die Devise. Fragen, ob man gewisse Sachen machen darf, bevor man sie einfach macht und den anderen womöglich verschreckt oder gar traumatisiert. Sagt der andere „Nein“, wird dies auch uneingeschränkt akzeptiert.
Beziehungsmodelle
Ein weiterer Aspekt: Polyamorie und offene Beziehungen. Beziehungskonzepte, die immer mal in der Kritik stehen, mittlerweile aber viel häufiger toleriert werden als früher. Sie verlieben sich schnell in Menschen und wollen das Verliebtheitsgefühl nicht auf eine Person reduzieren? Vielleicht ist das Konzept der Polyamorie etwas für Sie. Funktioniert mit anderen polyamoren Menschen super.
Sie mögen es, als Single Ihre Partner fürs Bett zu wechseln? Tun Sie das, achten Sie nur auf Ihre und auf die Gesundheit Ihrer Begegnungen. Und wenn Sie als vergebene Person Ihren Partner oder Ihre Partnerin sehr lieben, aber Sex und Liebe gut trennen können, gibt es auch noch das Konzept der offenen Beziehung, das für einige Paare genau die perfekte Ergänzung darstellt. Reden Sie einfach gemeinsam darüber, wenn Ihnen danach ist.
Weg mit den Vorurteilen
Zusammengefasst ist das Konzept der Sexpositivität eigentlich ganz einfach: Jede Form von Beziehung, Liebe und Sexualität ist in Ordnung, solange sie einem gut tut. Man darf Sachen probieren, sich auch mal umentscheiden. Ja, auch Menschen mit Behinderungen haben sexuelle Bedürfnisse. Ja, auch Menschen mit Übergewicht tragen Lackkleidung. Ja, die Vorliebe für ein Geschlecht kann im Laufe des Lebens wechseln. Akzeptieren Sie das für sich und für andere.
Schmeißen Sie Ihre Vorurteile über Bord. Bewerten Sie nicht. Natürlich wirken manche Fantasien immer erstmal merkwürdig, wenn man von ihnen noch nie gehört hat – aber niemand zwingt Sie dazu, Sie mitzumachen. Und eigentlich ist es doch wie bei Musik: Da gibt es diesen einen Song, den viele schon mögen, man ihn aber selbst als sehr nervig empfindet. Dann hört man ihn einige Male und auf einmal kommt er einem nicht mehr aus dem Kopf und man möchte zu ihm tanzen. Sie verstehen schon, was ich meine.