
Momentan hat man das Gefühl, es gibt nichts als Katastrophen und unser ganzes Leben, unsere Gesellschaft geht den Bach runter. Ulrich Breulmann setzt einen Kontrapunkt und hält Freudensprünge für mehr als angebracht. © Fotos: Wolfram Kiwit, Jill Wellington auf Pixabay / Collage: Martin Klose
Lasst endlich das Jammern sein! Uns geht es großartig!
Meinung
Gas- und Stromkosten explodieren, die Inflation frisst das Ersparte. Corona tötet weiter. Aber: Geht es uns wirklich so schrecklich? Es ist Zeit, einiges zurechtzurücken. Ein Kommentar.
Gefühlt höre ich seit Wochen nur noch Jammern, Klagen und Lamentieren. Über die hohen Preise bei Lebensmitteln, Kleidung und Benzin. Über die ins Haus stehenden gigantischen Rechnungen für Strom und Gas. Über unendlich lange Lieferzeiten bei Photovoltaik-Anlagen, Kaminöfen und Ersatzteilen aller Art. Über ausverkauftes Brennholz und Sonnenblumenöl. Über volle, verspätete oder ausgefallene Züge.
Über Handwerker, die keine Zeit für Reparaturen haben. Über fehlendes Pflegepersonal in Kliniken und Heimen. Über Staus an Straßen-Baustellen einerseits, über Schlaglöcher in den Straßen andererseits. Über Hitze an den einen und das doch für den Sommer etwas zu kühle Wetter an den anderen Tagen.
Bürokratie-Fanatismus und Hirten ohne Herde
Über all die Absurditäten des typisch deutschen, penetranten Bürokratie-Fanatismus. Über unfähige Politikerinnen und Politiker, die von anderen fordern, was sie sich selbst und ihren eigenen Leuten nicht zumuten. Über Kirchenfürsten, die schlimmste Missbrauchstaten ihrer Kaste decken und nicht mal merken, dass sie als Hirten ihre Herde längst verloren haben.
Ganz ehrlich: Mir ist das alles zu viel. Ja, ich räume ein: Über all diese Dinge kann man sich ärgern. Über viele Dinge muss man sich auch empören. Missstände gehören aufgedeckt und angeprangert, sonst bleiben sie für immer. Über Entwicklungen, die Menschen das Leben schwer machen, dürfen wir nicht schweigen. Wir dürfen deshalb auch mal stöhnen und klagen, aber: Wir dürfen über allem Zetern und Jammern die Maßstäbe nicht verlieren, unsere Sicht auf die Welt nicht ins absurd Negative verzerren.
Ich selbst habe schon oft Missstände angeprangert und werde das weiterhin tun. Aber heute muss ich auch einmal dieses loswerden: Es wäre gut, wenn wir einfach mal einen Augenblick innehalten und uns bewusst machen würden, wie fürchterlich gut es uns allen geht. Dass wir das unfassbare und ehrlicherweise auch völlig unverdiente Glück und Privileg haben, in diesen Zeiten hier in Deutschland zu leben.
Die Mehrheit der Weltbevölkerung beneidet uns
Wir leben in einem demokratischen Land, in dem seit 77 Jahren Frieden herrscht. Um zu erkennen, welch gewaltiges Glück fern jeder Selbstverständlichkeit allein das ist, muss man nur einen Blick in die Ukraine werfen. In diesen friedlichen Zeiten haben wir einen Wohlstand erreicht, um den uns die absolute Mehrheit der Weltbevölkerung beneidet. Wir gehören zu den reichsten Ländern der Erde.
Auch wenn alles immer noch besser geht: Im Prinzip erlaubt uns ein funktionierender Rechtsstaat ein sicheres Leben. Wir haben ein gutes Gesundheitssystem, das jedem und jeder offen steht. Unsere sozialen Sicherungssysteme bewahren Menschen vor dem Absturz ins Nichts, wenn es in ihrem Leben nicht gut läuft. Unser Bildungssystem steht grundsätzlich allen kostenlos offen. Wir dürfen unsere Meinung frei äußern.
Wie gut es uns wirklich geht, erkennen wir am besten im Vergleich. Zwischendurch, wenn wir wieder nur geklagt haben, sollten wir daher auf die Menschen schauen, denen es wirklich dreckig geht. Auf die mehr als 800.000 Millionen Menschen beispielsweise, die weltweit hungern – alle 13 Sekunden verhungert nach Angaben der Welthungerhilfe ein Kind unter 5 Jahren.
Es hätte nicht viel besser laufen können
Auf die mehr als 100 Millionen Menschen, die vor Krieg und Verfolgung aus ihrer Heimat auf der Flucht sind. Auf die Menschen in den Regionen der Erde, die schon bald keine Heimat mehr haben, weil der Meeresspiegel aufgrund der Klima-Katastrophe steigt und steigt. Auf die Menschen, die von Unrechtsregimen in Gefängnisse gesperrt, gefoltert und hingerichtet werden.
Und dann können wir mit einer veränderten Sicht zurück auf unser eigenes Leben blicken und sehen: Unsere Sorgen, Ängste und Nöte sind auf das richtige Maß geschrumpft. Das wäre ein guter Moment, unendlich dankbar dafür zu sein, das Fenster aufzureißen und laut hinauszuschreien: „Das Leben ist großartig! Mir geht es fantastisch!“ Und das sollte man möglichst schnell tun, denn bei dem Gedanken an das Weh der Welt kommt man selbst schon wieder schnell ins Jammern....
Der Philosoph Gottfried Wilhelm Leibniz vertrat im 17. Jahrhundert die schon damals höchst kontrovers diskutierte These, dass wir in der „besten aller möglichen Welten“ leben – weil Gott als vollkommenes Wesen und Schöpfer der Erde gar keine andere Welt hätte erschaffen können. Ob Leibniz mit seinen Überlegungen richtig liegt (all das viele Leid als Teil der besten aller Welten?), da bin ich mir nicht so sicher. Für mich steht aber fest: Für uns, die wir im Jahr 2022 in diesem Land leben, hätte es nicht viel besser laufen können.
Ulrich Breulmann, Jahrgang 1962, ist Diplom-Theologe. Nach seinem Volontariat arbeitete er zunächst sechseinhalb Jahre in der Stadtredaktion Dortmund der Ruhr Nachrichten, bevor er als Redaktionsleiter in verschiedenen Städten des Münsterlandes und in Dortmund eingesetzt war. Seit Dezember 2019 ist er als Investigativ-Reporter im Einsatz.
