Nach den Missbrauchsvorwürfen gegen den verstorbenen katholischen Kardinal Franz Hengsbach (1910-1991) sind beim Bistum Essen laut Ruhrbischof Overbeck auch eine „Reihe von Hinweisen“ eingegangen, die nichts mit sexueller Gewalt zu tun haben. Sie würden „auf eine Ambivalenz des Gründerbischofs hinweisen, die lange Zeit offenbar tabuisiert war“, sagte Bischof Franz-Josef Overbeck der Deutschen Presse-Agentur dpa am Donnerstag.
„Wir erleben gerade in unserem Bistum ein regelrechtes Erdbeben, weil mit diesem tiefen Fall einer bischöflichen Identifikationsfigur auch eine Idealvorstellung von Kirche zerbricht“, sagte der Ruhrbischof. Das sei schwer auszuhalten. „Mir ist bewusst, wie sehr das viele Menschen in unserem Bistum gerade zerreißt. Aber es führt kein Weg daran vorbei, uns diesen bitteren Realitäten zu stellen. Das ist ein Teil von Aufarbeitung.“
Vergangene Woche hatte das Bistum Essen mitgeteilt, es bestehe der „gravierende“ Verdacht, dass Hengsbach in seiner Zeit als Weihbischof in Paderborn in den 1950er Jahren eine 16-Jährige sexuell missbraucht habe. Außerdem beschuldigt eine Frau Hengsbach eines weiteren Übergriffs im Jahr 1967 in seiner Essener Zeit als Bischof. Der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, Georg Bätzing, sieht bei dem 1991 verstorbenen Bischof „verbrecherisches Verhalten“.
Laut Overbeck ist der Vertrauensverlust in die Kirche „enorm“. „Dem können wir nur eine tiefgreifende Erneuerung entgegensetzen.“ Dazu gehöre, zuerst und konsequent auf die Stimmen derer zu hören, die von sexualisierter Gewalt und Machtmissbrauch betroffen seien, sagte er. „Das ist nicht leicht und ich werde das mit vielen anderen sicher immer auch weiter zu lernen haben.“
Overbeck kündigt schonungslose Aufklärung an
Aber die Perspektive der Betroffenen gebe auch die Orientierung, was alles verändert werden müsse, damit Machtmissbrauch und die furchtbaren Verbrechen der sexuellen Gewalt in Zukunft soweit es eben geht verhindert werden können. „Das betrifft dann strukturelle Fragen, aber vor allem auch Fragen nach Macht- und Gewaltenteilung, nach der lehramtlich-kirchlichen Sexualmoral und nach unserem Amtsverständnis.“ Am Ende werde es darauf ankommen, dass die Kirche zu einem Ort werden könne, an dem sich Menschen wertgeschätzt und beheimatet wüssten und keine Angst haben müssten, sagte Overbeck.
Ernsthafte Reformen seien ohne eine schonungslose und selbstkritische Aufarbeitung nicht möglich, betonte er. „Denn wenn wir ohne jede Selbstkritik auf ein kirchliches Erbe aufbauen würden, in dem Mitarbeitende der Kirche anderen Menschen so viel entsetzliches Leid angetan haben, dann dürften wir als Institution zu Recht keine Zukunft haben.“
Es zeige sich sehr deutlich, „wohin es führt, wenn Persönlichkeiten überhöht und idealisiert werden“, so Overbeck weiter. „Wir werden in der Kirche daraus lernen müssen, deutlich zurückhaltender zu sein, einzelne Menschen aufgrund ihres geistlichen Amtes oder einer hohen Funktion im wahrsten Sinn des Wortes auf einen Sockel zu heben.“ Dadurch werde zu schnell ausgeblendet, dass jeder Mensch auch Schattenseiten habe und im schlimmsten Fall zu bösartigen Taten fähig sei.
„Aus den verschiedenen Studien zur sexuellen Gewalt wissen wir ja auch, wie gefährlich die Überhöhung von hochrangigen Persönlichkeiten werden kann. Sie gelten als unantastbar - und wenn sie dann unter dem Deckmantel ihres idealisierten Rufs schreckliche Taten begehen, haben Betroffene kaum eine Chance, weil ihnen nicht geglaubt wird.“ Wie auf längere Sicht eine angemessene Erinnerung an Kardinal Hengsbach aussehen könne, vermöge er derzeit nicht zu sagen. „Dazu brauchen wir die Aufarbeitung und eine breite Debatte.“
Kardinal Franz Hengsbach war 33 Jahre lang der erste Bischof des 1958 gegründeten Ruhrbistums, zugleich Gründer von Adveniat - dem bischöflichen Lateinamerika-Hilfswerk - und lange Jahre deutscher Militärbischof und sozialpolitisch engagiert für das Ruhrgebiet in der Stahl- und Kohlekrise.
dpa
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