Ein Blockbuster war „Der Ölprinz“. Vier Millionen Kinobesucher haben 1965 den Film über den skrupellosen Fiesling gesehen, der Eingeborene wie Siedler in Amerikas Wildem Westen unsicher machte. Anders als der Bandit, der am Ende seinen Skalp verlor, ging Apachenhäuptling Winnetou wie selbstverständlich als der große Sieger aus dem Streifen hervor - und als ein Versöhner. Genau so, wie es Karl Mays Buchvorlage aus dem Jahr 1893 beschrieb.
Doch wer heute den Schmöker aus dem hintersten Regal vorkramt und schon die ersten Seiten des angestaubten Taschenbuchbandes durchblättert, der muss sanfte Schocks über manchen Sprachgebrauch des ausgehenden 19. Jahrhunderts verkraften und fühlt sich unmittelbar in aktuelle gesellschaftliche Debatten versetzt.
Die christliche Mission San Xavier del Bac? Ein „glänzender Zeuge der Zivilisation mitten in der Wildnis von Arizona“. Die Bedienung in der Kneipe, die den Schnaps einschenkt? Eine „alte Negerin“. Der Stamm der Papago-Indianer? Immerhin: „Friedfertig und arbeitsam“, er muss aber „viel unter dem weißen Gesindel“ leiden. Auf Seite 61 schließlich eine Erinnerung an den deutschen Alltag über „die Müßiggänger, die nach einem Zigeunerlager laufen, um sich dessen Treiben anzusehen“. Und „Tante Droll“ hat einen Auftritt - mit „ihrem langen, frauenhaften Gewand und einer fistelhaften hohen Stimme“. Wobei das „ihrem“ in dem Satz eigentlich „seinem“ heißen müsste. „Tante Droll“ in Mays Erzählung ist ein Mann.
Der Fall Winnetou
Nur wenig von solchem Wortgebrauch würde heute die strengen Kontrollen von Verlagskorrektoren überstehen. Aber was ist mit Korrekturen alter Texte, die vor Jahrzehnten aufgeschrieben wurden oder - wie in diesem Fall - vor mehr als einem Jahrhundert? Darf die Gesellschaft von heute Karl Mays Millionenauflagen im Nachhinein umschreiben, wenn sie weder Begriffe wie Neger noch Zigeuner wünscht noch den Vergleich eines „glänzenden Zeugen der Zivilisation“ mit der Wildnis in Indianerland? Und wie weit sind bestehende literarische Angebote schon solchen Checks mit anschließenden Veränderungen unterworfen worden?
Der „Ölprinz“ blieb bisher unangetastet. Aber 2022 wurde ein verwandtes Projekt gestoppt. Ein Buch über den „jungen Häuptling Winnetou“ geriet in Verruf, weil die Darstellung der indigenen Kultur „rassistisch“ sei, die Figuren mit Klischees behaftet und überhaupt das alles als „kulturelle Aneignung“ zu betrachten wäre. Der Ravensburger Verlag gab dem Druck, der meist über das Internet presste, nach. Das Werk gelangte gar nicht erst auf den Markt. Auch die ARD setzte als Folge der Debatte eine Wiederholung der May-Klassiker aus den 1960er Jahren zunächst ab. Die taz kommentierte: Es gebe „kein Recht auf rassistischen Schrott“.
Der Fall Pippi Langstrumpf
2002 starb Astrid Lindgren. Hunderttausende folgten in Stockholm dem Trauerzug mit dem Sarg der mit 94 Jahren verstorbenen weltberühmten Kinderbuch-Autorin. Hinter dem Katafalk liefen ein junges Mädchen und ein weißes Pferd, die zentralen Figuren ihres zentralen Werkes „Pippi Langstrumpf“ aus den 1940er-Jahren. Die Menschen liebten und weinten um die Schriftstellerin, auch, weil sie immer für Toleranz, Gewaltlosigkeit gegenüber Kindern und Tieren und gegen Rassenhass eingetreten war.
Sieben Jahre später jedoch folgte der Hamburger Oettinger-Verlag, der die deutschen Rechte Lindgrens vertritt, dem schwedischen Verlagsvorbild und griff zum Radiergummi. „Negerkönig“, wie Pippis Vater in der Originalfassung hieß, und auch die „Negersprache“ verschwanden aus den Neuauflagen. Sie verwandelten sich in „Südseekönig“ und nach seinem Land „Taka-Tuka-Sprache“. Es ist nach Berichten höchst fraglich, ob Lindgren das so gewollt hätte.
Weitere Verdächtige
Einzelfälle? Sie häufen sich seit Beginn der Nullerjahre. Von den Vereinigten Staaten ausgehend sind Forderungen nach nachträglichen Berichtigungen von mutmaßlich rassistischen, diskriminierenden oder einfach falsch gewählten Begriffen zu einem fast weltweiten Trend geworden. Der Bann trifft Klassiker wie Margret Mitchells Roman „Vom Winde verweht“, der ja im US-Süden zu Hochzeiten der Sklaverei spielt oder auch Roald Dahls „Charlie und die Schokoladenfabrik“. Die Figur des Augustus Gloop darin soll jetzt kein „fetter Junge“ mehr sein, sondern nur noch ein „enormer“. Im Buch „Die Hexen“, in dem der 1990 verstorbene Dahl „attraktive“ Frauen vorkommen ließ, haben die sich heute in „gütige“ und „liebevolle“ Wesen verwandelt. Andere Kandidaten auf der Checkliste: „Harry Potter“. „Avatar“. „Peter Pan“. Nicht zuletzt: „Das Dschungelbuch“. Es könnte durch eine britische Kolonialperspektive beeinflusst sein, wie Anbieter Disney auf Streamingdiensten selbstkritisch vor dem eigenen Produkt warnt.
Wortverbote und Zwang, wie sie die Szene rechtsaußen vermutet, sind selten und vor allem juristisch kein Thema. Da steht schon der Artikel 5 des Grundgesetzes gegen, der klar sagt: „Eine Zensur findet nicht statt“. Aber in Deutschland werden besonders im sensiblen Bereich der Kinderbücher Tests auf Rassismus und unpassende Wortwahl öfter als früher genutzt.

Im vergangenen Sommer haben zwölf Studierende der Technischen Hochschule Augsburg im Auftrag der Stadtbibliothek deren Kinderbuchbestand untersucht. „Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer“ von Michael Ende erhielt die Note „Überhaupt nicht empfehlenswert“ und damit die schlechteste Bewertung.
Der Fall Jim Knopf
Ein Stolperstein war, dass Jims Hautfarbe nach Ansicht der Tester „mit Schmutz verbunden wird“. Tatsächlich fand der Autor, dass Waschen für den sympathischen Jungen überflüssig sei, „weil er ja sowieso schwarz war und man gar nicht sehen konnte, ob sein Hals sauber war oder nicht“. Nicht nur solche Sätze störten die Augsburger Studierenden. Auch die Zeichnungen von der Hauptperson stießen ihnen auf. Haut? „Übertrieben schwarz“. Lippen: „Übertrieben groß“. Die Nase: Nicht zu erkennen.
In der Augsburger Stadtbücherei können Kinder und Eltern das Buch weiter ausleihen. Niemand solle bevormundet werden, beruhigt die Chefetage. Auf der Buch-Rückseite klebt allerdings ein QR-Code, mit dem Interessierte auf eine aufklärende Website geleitet werden. So geht im Prinzip auch die kommunale Bücherei in Heilbronn vor, die jedoch nach einem Testlauf des Bestandes „Tim im Kongo“ aus den Regalen warf, ein Band aus der Reihe „Tim und Struppi“ von 1931.
Die Welle der Debatten ist vom akademischen Bereich ausgegangen und hat ihn voll erfasst. An Hochschulen werden nicht wenige Bachelor- und Masterarbeiten mit Diskriminierungs-Thematik verfasst. Aber kann sie auf den Alltag durchschlagen, dann, wenn sich Menschen direkt betroffen fühlen? Das ist 2023 in Ulm passiert.
Der Fall Wolfgang Koeppen
Der Roman „Tauben im Gras“, 1951 geschrieben von Wolfgang Koeppen, dreht sich um das Deutschland der unmittelbaren Nachkriegszeit. Die Stadt, die den Schauplatz abgibt, ist zwar ungenannt. Gemeint scheint München. Die Handlung spielt 1948 und 1950 in kriegsbetroffenen einheimischen Familien und in Kneipen der amerikanischen Besatzer, die hauptsächlich von schwarzen GIs besucht werden. Rassismus war damals, ein Erbe der Nazis, durchaus an der Tagesordnung.
Die Ulmer Deutschlehrerin Jasmin Blunt, die selbst wegen ihrer Hautfarbe Rassismus-Erfahrungen gemacht hat, bekam das Buch in die Hand, weil es an den beruflichen Gymnasien Baden-Württembergs zum Pflichtstoff im Abitur zählen sollte. Als sie reinschaute, sei das „einer der schlimmsten Tage im Leben“ gewesen, sagte sie hinterher dem Sender SWR. Denn bestimmt hundert Mal sei sie in „Tauben im Gras“ auf das Wort „Neger“ gestoßen. „Was man sich bewusst machen muss bei dem Thema, ist, dass die Sprache tatsächlich den Rassismus transportiert - und zwar in meine Lebenswelt hinein. Das ist brutaler Angriff auf meine Menschenwürde“.
Jasmin Blunt startete eine Petition an das baden-württembergische Kultusministerium, das Buch aus der Prüfungsliste auszusortieren. Die Kultusministerin wollte nicht. Der Roman sei nicht nur für den Unterricht geeignet. Er könne sogar dazu beitragen, das Thema Rassismus den Schülern näher zu bringen. Die Paderborner Literaturprofessorin Magdalena Kießling hielt dagegen: „Es gibt zu wenig Sensibilität dafür, was die Macht von Sprache ausmacht, und da werden Erfahrungsberichte zu wenig ernst genommen“. Jasmin Blunt war über die Freigabe des Romans mit den vielen N-Worten als Prüfungsstoff tief verärgert. Sie erklärte, den Beruf „vorerst nicht mehr ausüben“ zu wollen und stellte einen Antrag auf vorläufige Beurlaubung ohne Besoldung.
„Für freie Debattenräume“
Der Vorgang in Ulm zeigt, wie schnell der Streit um Begriffe und Erzählstränge entgleisen und eine Gesellschaft spalten kann, in der 50 Prozent über Abitur und Studium ins Leben gehen und die anderen 50 Prozent nicht. 80 bekannte Experten haben vor zwei Jahren zum Gegenschlag ausgeholt und einen von Milosz Matuschek und Gunnar Kaiser gestarteten „Appell für freie Debattenräume“ unterschrieben. „Lautstarke Minderheiten von Aktivisten legen immer häufiger fest, was wie gesagt und überhaupt zum Thema werden kann“, stellten sie fest. Ein „Ungeist“ mache sich breit, „der das freie Denken und Sprechen in den Würgegriff nimmt“ und auch den Austausch von Ideen verhindere. „Wir erleben gerade einen Sieg der Gesinnung über rationale Urteilsfähigkeit“.
Die Namen der Unterzeichner überraschen. Links/Rechts-Schemata ziehen nicht mehr. Mitgemacht hat vom Historiker Götz Aly, einem der besten Kenner der nationalsozialistischen Geschichte Deutschlands, über den Moderator Peter Hahne, die Schriftstellerin Monika Maron, den Strafrechtler Reinhard Merkel, Tübingens Oberbürgermeister Boris Palmer, früher Die Grünen, bis zum Linken und „Bild“-Kritiker Günter Wallraff eine große Breite. Deren gemeinsame Befürchtung: „Das Denken in Identitäten und Gruppenzugehörigkeiten bestimmt die Debatten und verhindert dadurch nicht selten eine echte Diskussion, Austausch und Erkenntnisgewinn“.
Lösungswege
Wo ist der Ausweg, der die Heftigkeit der Töne dämmt, die Gegner zusammenführt und gleichzeitig Neues aufzeigt? Vielleicht ergibt er sich aus der Umfrage, die unsere Redaktion im Zusammenhang mit dieser Serie gestartet hat. Danach sind fast 80 Prozent gegen Änderungen von Begriffen wie „Indianer“ und „Negerkönig“ in den alten Büchern von Karl May und Astrid Lindgren.
Aber immerhin fast die Hälfte der 3386 Befragten unterstützte eine weitere Linie: „Wir sollten sensibel mit der Sprache umgehen und Begriffe vermeiden, von denen sich manche diskriminiert fühlen“. Steckt hinter diesem Wunsch die Möglichkeit, sich für die Zukunft Veränderungen vorzunehmen, die rückwirkend besser nicht zum Einsatz kommen?
Die 1980 in Süddeutschland geborene Kulturwissenschaftlerin Olalolou Fajambola setzt ähnlich auf praktische Lösungen. Sie rät zu einem konsequenten Umbau in Deutschlands Buchhandlungen und Leihbüchereien. Was fehlt dort, fragte sie der „Spiegel“. Fajambola antwortet darauf: „Selbst in Buchläden mit gut sortierten Abteilungen für Erwachsene denkt man in der Kinderbuchabteilung viel zu oft: Willkommen in den Fünfzigerjahren.
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