Pechstein: Niemand hat Mut, «kapitalen Fehler» zu gestehen
Der 8. März ist der vielleicht wichtigste Tag in der Karriere von Claudia Pechstein. Doch zwei Tage nach der WM in Berlin kämpft sie nicht auf dem Eis, sondern steht mit ihrer Klage gegen den Eislauf-Weltverband ISU vor dem höchsten deutschen Zivilgericht.

Claudia Pechstein klagt vor dem Bundesgerichtshof gegen den Eislauf-Weltverband. Foto: Soeren Stache
Zum 21. Mal steht Claudia Pechstein bei Mehrkampf-Weltmeisterschaften am Start. Die 44 Jahre alte Berlinerin trägt beim Heimspiel am Wochenende die Hoffnungen der Deutschen Eisschnelllauf-Gemeinschaft, doch im Hinterkopf hat sie einen noch wichtigeren Termin.
Zwei Tage nach der WM kämpft die mit Abstand beste deutsche Langstrecklerin in ihrem insgesamt siebten Prozess gegen ihre Sperre durch Eislaufverband ISU und um Schadenersatz. Der Bundesgerichtshof in Karlsruhe könnte ein historisches Urteil sprechen. Die Deutsche Presse-Agentur sprach vor den wichtigen Tagen ihrer Karriere mit der Hauptstädterin.
Wie sehr belasten die Gedanken an den wichtigen Prozess Ihre Vorbereitung auf die Heim-WM?
Claudia Pechstein: Ich versuche, Sport und Prozess so gut wie möglich zu trennen. Das hat in den vergangenen Jahren meist ganz gut geklappt. Aber diesmal ist das extrem schwierig. Alle in meinem Umfeld sind angespannt. Auf den Tag der BGH-Verhandlung haben wir jahrelang hingearbeitet, da gerät sogar eine Heim-WM in den Hintergrund.
Schon vor drei Jahren haben Hämatologen die Diagnose gestellt, dass Ihre überhöhten Retikulozytenwerte durch eine geerbte Blutanomalie bedingt sind. Wie erklären Sie sich, dass die ISU weiter an der Richtigkeit Ihrer Sperre zwischen 2009 und 2011 festhält?
Pechstein: Das kann ich mir nicht erklären. Die ISU tritt den Fairplay-Gedanken mit Füßen. Wer einen Fehler macht, sollte auch die Größe haben, ihn einzugestehen. Vor allem, wenn es einer mit solcher Tragweite ist.
Sie verklagen die ISU auf rund fünf Millionen Euro. Können Sie sich vorstellen, dass die Verbandsfunktionäre intern ihre Unschuld längst anerkannt haben und nur das Geld sparen wollen?
Pechstein: Genau so ist es. Hinter vorgehaltener Hand wurde mir schon direkt von der ISU-Spitze bestätigt, dass man sich geirrt hat. Doch niemand hat den Mut, diesen kapitalen Fehler offiziell einzugestehen. Das macht das ganze besonders schäbig. Deshalb hoffe ich sehr, dass der BGH die Weichen stellt, um meinen Fall vor dem OLG in München neu aufrollen zu können.
In der «Sport Bild» haben sie öffentlich gemacht, dass sie schon 750 000 Euro für medizinische Gutachten, Anwälte und Prozess-Kosten ausgegeben haben. Wir war die Resonanz auf Ihren Hilferuf zur Deckung von rund 75 000 Euro BGH-Anwaltskosten?
Pechstein: Sie war überwältigend. Ich habe mehr als 1000 Spenden erhalten, zwischen fünf und über 1000 Euro. Dadurch ist es mir erst möglich geworden, den Kampf gegen die ISU fortzusetzen. Solch eine Erfahrung macht sehr demütig. Deshalb bekommt jeder sein Geld zurück, für den Fall, dass der BGH für mich entscheidet. Denn dann müssen sämtliche Kosten dieses Verfahrens von der ISU getragen werden.
Was erhoffen Sie sich vom BGH-Urteil?
Pechstein: Den entscheidenden Schritt in Richtung Gerechtigkeit. Jeder, der den Prozessmarathon verfolgt, weiß: Die ISU müsste im Rahmen der Schadensersatzklage vor dem OLG München beweisen, dass ich gedopt habe. Und bei dem Gedanken lache ich mich jetzt schon in den Schlaf. Denn niemand kann etwas beweisen, was nicht stattgefunden hat.
Es wird schon im Vorfeld vom «Pechstein-Urteil» gesprochen. Wie wichtig könnte der BGH-Spruch für andere Sportler sein?
Pechstein: Wenn der BGH entscheidet, dass ich vor ein Zivilgericht ziehen darf, würde dies für alle Sportler gelten, die ihr Schicksal nicht den Schiedsgerichten anvertrauen wollen. Dann hätten wir wirklich etwas bewegt. Und mit wir meine ich nicht nur das Team mit meinem Lebensgefährten Matthias Große, meinem Manager Ralf Grengel und den Anwälten Dr. Thomas Summerer, Simon Bergmann, Dr. Christian Krähe und Dr. Gottfried Hammer. Sondern auch alle Sportler, die mich unterstützt haben.
Ist es wirklich Ihr Bestreben, die gesamte Sportgerichtsbarkeit auf den Kopf zu stellen?
Pechstein: Ja, und zwar gründlich. Was aber nicht zwingend heißt, die Sportschiedsgerichte abzuschaffen. Aber Schiedsgerichte wie das Gremium der ISU, bei dem Ankläger und Richter allesamt vom Verband gestellt werden, verdienen es nicht einmal, das Wort Gericht im Namen zu tragen. Und auch beim CAS werden Richter mehrheitlich von den Verbänden bestimmt.
Der CAS hat erste Reformen angekündigt, zum Beispiel in Sachen Prozesskostenhilfe. Reichen diese aus, oder sollte aus Ihrer Sicht der CAS abgeschafft werden?
Pechstein: Ein paar Zugeständnisse bringen uns Sportler nicht weiter. Entweder der CAS führt Grundlagen ein, die mit einem Zivilgericht hierzulande vergleichbar sind, oder er schafft sich selbst ab. Unabhängigkeit der Richter ist das oberste Gebot. Es sollte nicht mehr hinter verschlossenen Türen verhandelt werden. Das riecht schon nach Mauschelei. Und bei neuen Beweisen muss es möglich sein, das Verfahren neu aufzurollen. Diese Lehren hätte der CAS aus meinem Fall freiwillig ziehen müssen. Nun hoffe ich sehr, dass der BGH ihm keine andere Möglichkeit mehr lässt.
ZUR PERSON: Claudia Pechstein ist mit neun Medaillen (5 Gold/2 Silber/2 Bronze) Deutschlands erfolgreichste Winter-Olympionikin. Insgesamt 51 Medaillen gewann die Berlinerin bei Welt- und Europameisterschaften. 109-mal bestieg sie das Podest bei Weltcups. Die Olympischen Winterspiele in Vancouver verpasste sie wegen der Zweijahressperre aufgrund schwankender Blutwerte, gegen die sie sich seit Jahren vor Gerichten zur Wehr setzt. Pechstein will - mit dann 46 Jahren - auch bei den Winterspielen 2018 in Pyeongchang starten.