Orchestraler Pop trifft ungestümen, wilden Gitarrensound

Tocotronic mit ganzer Wut in Köln

Tocotronic sind in einen Jungbrunnen gefallen. Auf der Bühne des Kölner E-Werks trägt Sänger Dirk von Lowtzow wieder eine Trainingsjacke, wie damals, 1995, als sie ihr Debütalbum "Digital ist besser" veröffentlichten. Auch die Wut und der Krach und die Dringlichkeit von damals sind wieder da.

KÖLN

, 14.03.2018, 07:10 Uhr / Lesedauer: 1 min
So war das Konzert von Tocotronic in Köln.

So war das Konzert von Tocotronic in Köln. © Thomas Brill

"Hallo Köln", raunt von Lowtzow mit seiner sonoren tiefen Stimme ins Mikrofon, "wir sind die Gruppe Tocotronic und bringen euch die Unendlichkeit." Wenn er so spricht, dann hat sein Ton etwas Pastorales, Mystisches, andeutungsreich Uneindeutiges, dabei hat die Band mit ihrem aktuellen Album "Die Unendlichkeit" endlich einen Schritt zurück in Richtung Eindeutigkeit gemacht. 

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Dirk von Lowtzow singt in den neuen Liedern von seinem kleinen Ausschnitt aus der Unendlichkeit: Über seine Jugend auf dem Land, wo man für seine Art zu Gehen, sich zu Kleiden, zu Denken oder zu Lieben schräg angeschaut werden konnte ("Hey du"). Von der Intimbeziehung, die er im elterlichen Reihenhaus zu seiner Gitarre entwickelte ("Electric Guitar"). Oder vom Tod eines guten Freundes ("Unwiederbringlich"). Erstaunlich ist, wie ihm dabei gut 2000 Menschen an den Lippen hängen oder mitsingen, springen, tanzen - all das, was man als langjähriger Fan sonst zu den "Hits von früher" macht.

Auf der Bühne flackern Nordlichter

Tocotronics Kunst ist, dass sie nach 23 Jahren Bandgeschichte eine gute Handvoll neue Hits geschrieben haben - Hits über früher.

Die Dringlichkeit ihres Vortrags reiht sich perfekt ein in die Aufführung von Großtaten wie "Hi Freaks", "Aber hier leben, nein danke" oder "Sag alles ab". Die vier Endvierziger bilden ein Kraftpaket vor dem Bühnensternenhimmel, über den die Lichtanlage manchmal Nordlichter flackern lässt. Sie übersetzen auch den orchestralen Pop ihres aktuellen Werks in den ungestümen, wilden, schrägen Gitarrensound von einst und verzücken damit ihr Publikum, obwohl sie eigentlich nicht in erster Linie verzücken wollen. Tocotronic wollen verstören, verlangsamen, das Denken verändern und in neue, freiere Bahnen lenken, Anarchie ist ein Begriff, der an diesem Abend fällt. Dass sie mit diesen Anliegen einen sicheren Platz in der Musikindustrie gefunden haben, ihnen hohe Plätze in den Albencharts sicher gute Einkommen garantieren, hindert sie nicht am wütend, am nicht einverstanden sein. Gut so.