
Warum hat denn niemand vorher etwas bemerkt? Das war der Gedanke von Angelique Coetzee, als sie die Omikron-Variante des Coronavirus entdeckte. Im Interview spricht die südafrikanische Ärztin über die Subvarianten BA.4 und BA.5 – und was die Welt jetzt von ihrem Land lernen kann.
Omikron-Entdeckerin Coetzee: „Das Ende der Pandemie scheint nicht absehbar“
Coronavirus
Warum hat niemand etwas bemerkt? Das war der Gedanke von Angelique Coetzee, als sie die Omikron-Variante des Coronavirus entdeckte. Im Interview spricht sie darüber, was die Welt lernen kann.
Angelique Coetzee ist Allgemeinmedizinerin in der südafrikanischen Hauptstadt Pretoria und ehemalige Vorsitzende der nationalen Ärztevereinigung. Seit einem halben Jahr trägt sie noch einen weiteren Hut: den der Entdeckerin der Omikron-Variante.
Derzeit steuert Südafrika auf seine fünfte Covid-Welle zu. Angetrieben wird diese durch die Omikron-Subvarianten BA.4 und BA.5, die auch die Weltgesundheitsorganisation (WHO) beschäftigen. Medizinerin Coetzee glaubt nicht an einen tödlicheren Krankheitsverlauf – für Entwarnung sei es allerdings noch zu früh.
Frau Coetzee, was ist bisher über die Omikron-Mutationen bekannt?
Dass sie sich nicht an die Spielregeln halten. Beim ursprünglichen Erregerstamm haben wir bei fast allen Patienten dasselbe Krankheitsbild gesehen, eine milde Erkrankung. Bei BA.4 hingegen ist es anders, es tritt vermehrt Husten auf, die Symptome sind wie bei einer Bronchitis, und auch Ohrinfektionen kommen vor. Der Husten scheint schwieriger zu behandeln als bei der ursprünglichen Mutation.
Wir sehen nun Patienten, die sich bereits im Dezember mit Omikron infiziert hatten, und jetzt wegen BA.4 behandelt werden. Wir behandeln auch BA.4-Patienten, die bereits dreimal mit dem Pfizer-Impfstoff geimpft wurden. BA.4 ist trügerisch, was das Problem birgt, dass man bei unbemerkter Infektion viele weitere Menschen ansteckt.
Untersuchungen haben gezeigt, dass der Großteil der Südafrikanerinnen und Südafrikaner durch Impfung oder Vorinfektion bereits Abwehrkräfte in sich trägt.
Viele denken, wir könnten uns auf der Herdenimmunität ausruhen. Dabei bietet diese keinerlei Garantie, dass wir uns nicht auch mit BA.4 infizieren können.
Fürchten Sie, dass die Subvarianten tödlicher sind als Omikron?
Bis jetzt konnten wir etwas Dahingehendes nicht feststellen. Der bronchitisartige Verlauf ist etwas schwieriger zu behandeln. Aber die Zahlen auf den Intensivstationen halten sich in Grenzen, was daraufhin hindeutet, dass wir in puncto schwerer Krankheitsverläufe auf der sicheren Seite sind.
Kann Europa, wie schon bei der ursprünglichen Omikron-Mutation, etwas von Südafrika lernen?
Man sollte zumindest auf uns hören. Wie letztes Mal, sind wir anderen Ländern zeitlich voraus.
Vergangene Woche verkündete Aspen, der einzige Covid-Vakzin-Hersteller in Afrika, die Produktion wegen der geringen Nachfrage möglicherweise bald einzustellen. Weshalb sind bisher nur 45 Prozent der Südafrikanerinnen und Südafrikaner geimpft?
Eines der Probleme ist, dass die Südafrikaner sich nur in ausgewählten Apotheken, nicht bei ihrem Hausarzt, impfen lassen können. Sie müssen zahlen, um dorthin zu gelangen (Anm. d. R.: Mehr als die Hälfte der 60 Millionen Südafrikanerinnen und Südafrikaner lebt unter der Armutsgrenze). Das stellt uns vor das Problem, dass wir mit vielen Impfungen dasitzen, die bald ablaufen.
Damit ist Südafrika nicht allein. Zu Beginn der Pandemie hatten afrikanische Länder kaum Zugang zu Impfungen, weil reiche Länder diese horteten. Jetzt müssen einige Länder am Kontinent gespendete Dosen vernichten, da zu viele auf einmal kommen. Hat die Welt chaotisch auf den Krankheitsausbruch reagiert?
Chaotisch wäre das falsche Wort. SARS-CoV-2 war neu. Und ich denke, dass wir manchmal den Überblick verlieren und dabei völlig das Krankheitsbild vergessen. Wir neigen dazu, uns nur auf die Wissenschaft zu fokussieren, und vergessen dabei, dass wir es letztlich mit Patienten und Menschen zu tun haben.
Sie waren die erste Medizinerin, die einen diagnostizierten Omikron-Infizierten behandelte. Was geht einem durch den Kopf, wenn die Nachricht kommt: Sie haben eine neue Covid-Variante entdeckt?
Ich habe mich nur gefragt, wieso bis dahin sonst niemand etwas gemerkt hatte.
Ich habe mich nur gefragt, wieso bis dahin sonst niemand etwas gemerkt hatte. Mein zweiter Gedanke, nachdem die Diagnose gestellt war, lautete: Oh nein, in wenigen Tagen ist Weihnachten, wir haben gerade erst die Delta-Welle hinter uns und können so etwas nicht noch einmal durchmachen.
Die Konsequenzen ließen nicht lange auf sich warten: Südafrikanische Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die Omikron erforschten, wurden zum Sündenbock für Reiseverbote, ausbleibende Touristinnen und Touristen sowie einen Wirtschaftseinbruch. Sie auch?
Ich habe im Gegensatz zu anderen keine Todesdrohungen erhalten, aber ein paar hässliche E-Mails: Wie dumm ich nicht sei, dass ich zur Hölle gehen und für immer brennen soll et cetera. Aber irgendwann im Leben hat man einen Punkt erreicht, da erträgt man es einfach. Man drückt einfach auf den Spam-Button.
Werden wir das Ende der Pandemie noch erleben oder müssen wir uns auf eine Zukunft mit dem Virus einstellen?
Einstweilen werden wir mit dem Virus leben müssen. Das Ende scheint nicht absehbar, vor allem, wenn ich auf die Undefinierbarkeit von BA.4 blicke. Es gleicht nichts, was wir bei den vorherigen Wellen erlebt haben. Bei einem Patienten mit entsprechenden Symptomen, der in den letzten sechs Monaten eine Covid-Infektion oder seine Booster-Impfung hatte, gingen wir früher davon aus, dass er bloß an einer Atemwegsinfektion leidet – und testeten ihn nicht. In den letzten eineinhalb Wochen mussten wir feststellen, dass wir uns irren. Wir müssen jetzt – theoretisch – jeden testen.
Haben Länder wie Südafrika die Kapazität für Massentestungen?
Nein, genau da liegt das Problem. Und auch die viel besungene Herdenimmunität wird uns bei einem Virus, das das Immunsystem umgeht, nicht weiterhelfen können.
Der Artikel "Omikron-Entdeckerin Coetzee: „Das Ende der Pandemie scheint nicht absehbar“" stammt von unserem Partner, dem RedaktionsNetzwerk Deutschland.