Nur der Anfang: Missbrauch in Gartenlaube von Münster vor Gericht – immer neue Spuren
Missbrauch vor Gericht
Acht Opfer, neun Angeklagte. Ein Elfjähriger, der Unvorstellbares durchmachte. 1200 Terrabyte Daten. Der Missbrauch-Komplex von Münster hat gigantische Ausmaße. Jetzt startet der erste Prozess.

Bei den Ermittlungen nach schwerem sexuellem Missbrauch von Kindern steht ein Polizeibeamter vor der Gartenlaube, die als ein Tatort gilt. An diesem Donnerstag (12.11) beginnt in Münster der große Prozess gegen den Hauptangeklagten aus Münster, seine Mutter und drei weitere mutmaßliche Mittäter aus Hessen, Brandenburg und Niedersachen. © picture alliance/dpa
Im Frühsommer brachten Ermittler in Münster einen Missbrauchsfall ans Licht. Noch während sie weitere Spuren auswerten, startet diese Woche ein großer Prozess gegen fünf Angeklagte - darunter der mutmaßliche Haupttäter.
Was dem heute Elfjährigen aus Münster in den vergangenen Jahren wohl zugefügt wurde, ist schwer zu ertragen: Er ist eines von mehreren Opfern im Missbrauchsfall Münster und nach bisherigen Erkenntnissen der Staatsanwaltschaft besonders schwer getroffen.
Wehrlos gemacht mit K.o.-Tropfen
Er soll immer wieder von seinem Ziehvater, einem IT-Techniker aus Münster, vergewaltigt und von ihm anderen Männern für schlimmste sexuelle Übergriffe zur Verfügung gestellt worden sein - wiederholt wehrlos gemacht mit K.o.-Tropfen.
„So wie es sich uns bislang darstellt, soll der Angeklagte mit ihm auch durch Deutschland gereist und ihn an verschiedenen Orten Männern überlassen haben“, sagt Oberstaatsanwalt Martin Botzenhardt aus Münster.
Am Donnerstag beginnt der Prozess gegen den Angeklagten und drei weitere mutmaßliche Peiniger des Sohnes seiner langjährigen Lebensgefährtin. Damit startet das bisher größte Gerichtsverfahren in dem Missbrauchskomplex, der zu den umfangreichsten der letzten Jahre in Deutschland gehört.
Auch die Mutter des Opfers ist angeklagt
Auf der Anklagebank wird dann auch die Mutter des Hauptangeklagten sitzen: Die 45 Jahre alte Erzieherin soll den Männern ihre Gartenlaube zur Verfügung gestellt haben - in dem Wissen, was dort geschah: Die schweren sexualisierten Gewalttaten, die sich in dieser Hütte einer Kleingartensiedlung in Münster an drei Tagen im April 2020 abgespielt haben sollen, stehen im Zentrum der Anklage.
Die angeklagten Männer - neben dem 27-jährigen Münsteraner, ein 30 Jahre alter Mann aus Staufenberg in Hessen, ein 35-jähriger Mann aus Hannover sowie ein 42-Jähriger aus Schorfheide in Brandenburg - sollen sich dort getroffen haben - „einzig und allein um die beiden Kinder im Alter von damals zehn und fünf Jahren schwer zu missbrauchen“, wie Botzenhardt schildert.
Der Ältere von beiden ist der Ziehsohn des angeklagten IT-Technikers, der Jüngere der Sohn des angeklagten Hessen. Ein Detail lässt zusätzlich Schaudern: Der Geburtstag beider Männer fällt in diesen Zeitraum.
Mehrstündiges Überwachungsvideo ist ein Hauptbeweisstück
Der auch wegen des Besitzes von Kinderpornografie vorbestrafte Münsteraner war im Frühsommer in Verdacht geraten, sich an seinem eigenen Ziehsohn vergangen zu haben, nachdem ein Jahr nach dessen Sicherstellung ein verschlüsselter Laptop mit entsprechenden Bildern geknackt worden war.
Die Ermittler stießen dann auf die Laube mit Doppelstockbetten und im Keller einer Wohnung auf einen vom Hauptangeklagten professionell eingerichteten Serverraum - alle dort sichergestellten Daten sind sehr gut verschlüsselt.
Die Dimension des Falles zeichnete sich da bereits ab, erinnert sich Botzenhardt.
Wichtiges Beweisstück in dem Prozess wird ein mehrstündiges Überwachungsvideo aus der von den Angeklagten genutzten Laube sein. Die Ermittler konnten es auf einem Datenträger wiederherstellen, der bei der Durchsuchung der Hütte in einer Zwischendecke gefunden worden war.
Acht mögliche Opfer, neun Angeklagte
In der Folge ergaben sich immer weitere Spuren: Handybilder, Chatverläufe und Zeugenangaben ließen immer mehr Männer ins Visier der Ermittler geraten. Erst jene aus der Laube, dann weitere im Umfeld des IT-Technikers.
Allein die Staatsanwaltschaft Münster führt inzwischen Verfahren gegen insgesamt neun Angeklagte und geht derzeit von acht möglichen Opfern aus. Sie alle stammen aus dem nahen Umfeld der mutmaßlichen Täter und vertrauten ihnen offenbar. Bundesweit verfolgen weitere Staatsanwaltschaften mindestens genauso viele Fälle mit Bezug zu dem Missbrauchsfall von Münster.
2500 Datenträger, 1200 Terrabyte Daten
Die schier unfassbare Menge an Daten, die die Beamten der Ermittlungskommission der Polizei Münster sicherstellten und noch längst nicht umfassend ausgewertet haben, lässt befürchten, erst die Spitze des Eisbergs sehen zu können: Mehr als 2500 Datenträger wurden sichergestellt - zum Teil gut verschlüsselte Mobiltelefone, passwortgesicherte Festplatten und andere Datenträger - ungefähres Datenvolumen 1200 Terrabyte. Rund ein Drittel davon ist nach Polizeiangaben bisher ausgewertet.
Ermittelt wird auch weiter gegen die Lebensgefährtin des Hauptangeklagten. Es gebe bislang aber keine gesicherten Hinweise, dass sie wusste, was ihr Partner mit ihrem Kind tat, so die Staatsanwaltschaft.
Weitere Anklageschriften
Auch in zahlreichen - über den am Donnerstag startenden Prozess hinausgehenden - Fällen hat die Staatsanwaltschaft Münster weitere Anklageschriften verfasst: In der Gesamtschau wird deutlich, dass der 27 Jahre alte IT-Techniker über das Internet immer wieder Gleichgesinnte kennenlernte.
Treffpunkte für die Vergewaltigungen und Übergriffe waren häufig Ferienwohnungen. Mal traf man sich im Sauerland, mal auf Mallorca oder Sylt, mal in einem Waldstück bei Köln, mal lud der Hauptangeklagte zu sich in die Wohnung.
Nach den großen Missbrauchsfällen wie in Lügde und dem Komplex mit mehr als 200 identifizierten Beschuldigten, der seinen Anfang in Bergisch Gladbach nahm, haben auch die Fälle mit Bezug zu Münster Politik, Polizei und Öffentlichkeit vor Augen geführt, welche Kreise sexualisierte Gewalt gegen Kinder zieht.
Land intensivierte Ermittlungen nach Lüdge
Sie haben auch gezeigt, dass eine Intensivierung der Ermittlungen durchaus zu wirken scheint: Nach früheren Angaben des NRW-Innenministers Herbert Reul werden in den Kreispolizeibehörden des Landes viermal so viele Ermittler im Kampf gegen Kindesmissbrauch und die Abbildungen solcher Straftaten eingesetzt als vor dem Bekanntwerden der Taten von Lügde. Die Bundesregierung will zudem härtere Strafen einführen.
Zum Schutz der Opfer hat die Nebenklagevertreterin nach Angaben des Gerichts bereits Anträge gestellt, die Öffentlichkeit von der Anklageverlesung und der Befragung der Angeklagten auszuschließen. Ob sie sich überhaupt vor den Richtern einlassen werden ist ungewiss. Im Ermittlungsverfahren haben sie bislang geschwiegen. Das Gericht sieht zunächst 29 Verhandlungstermine bis Ende Februar 2021 vor.
dpa