Niedergang der Kirchen: Wie das Land ohne Christentum aussähe
Kirche in Deutschland
Immer weniger Menschen gehören einer christlichen Kirche an. Dabei stellt sich die Frage, was das für die Gesellschaft bedeutet. Der Politikwissenschaftler Andreas Püttmann sagt: nichts Gutes.

Ministranten prozessieren beim Weihnachtsgottesdienst durch eine Kathedrale. © picture alliance/dpa/dpa-Zentralbild
Auf der Kabinettsbank ist die Gottesferne schon weit vorangeschritten – wenngleich nicht so weit wie im Rest der Gesellschaft. Kanzler Olaf Scholz (SPD) ist aus der evangelischen Kirche ausgetreten, der grüne Vizekanzler Robert Habeck ebenfalls. Und dass Finanzminister Christian Lindner von der FDP der katholischen Kirche angehörte, ist auch schon eine Weile her.
Bei der Vereidigung der Kabinettsmitglieder verwendeten zwar noch neun der 16 Minister den Zusatz „So wahr mir Gott helfe“ – die übrigen sieben aber nicht mehr. Damit bildet sich in der Regierung ungefähr das ab, was sich in der deutschen Gesellschaft insgesamt vollzieht, in der mittlerweile die Hälfte keiner Religionsgemeinschaft mehr angehört und in der infolge der Missbrauchsskandale die Gläubigen weiter in Scharen davonlaufen.
Ja, Deutschland wird mehr und mehr ein gottloses Land, sein östlicher Teil ist es seit Langem. Die Frage lautet, welche Konsequenzen das hat. Dabei muss man zwei Ebenen unterscheiden.
Da ist zunächst die politische Ebene. Jahrzehntelang waren die Kirchen eine Macht in der Bundesrepublik. Und zumindest während der Kanzlerschaft Helmut Kohls wurde das auch immer wieder sichtbar. Da waren Gesetzentwürfe, die den Interessen von Katholiken und Protestanten zuwiderliefen, praktisch chancenlos.
Der Deutschland-Besuch von Papst Johannes Paul II. 1980 war ein nationales Ereignis. Als der aus Bayern stammende Kardinal Joseph Ratzinger am 19. April 2005 Chef im Vatikan wurde, da titelte die Zeitung mit den größten Buchstaben sogar: „Wir sind Papst!“ Das wäre 17 Jahre später nicht allein wegen der Missbrauchsskandale nahezu denkbar.
Gewiss, schon die religiöse Musikalität des Kohl-Nachfolgers Gerhard Schröder (SPD) hielt sich sehr in Grenzen. Doch Angela Merkel war immerhin Tochter eines Pfarrers, obschon aus Sicht mancher Kritiker eines verdächtig ostdeutsch-evangelischen. Als die Kanzlerin aus dem Amt schied, ließ sie von der Bundeswehr „Großer Gott, wir loben Dich“ intonieren.
Gottfernes Kabinett
Auch das wirkt beinahe wie Geschichte. Selbst wenn es die Protagonisten abstreiten: Parteipolitisch ist das Christentum in der Ampelkoalition aus Sozialdemokraten, Grünen und Liberalen ziemlich abgemeldet. Die sogenannten Staatsleistungen für die Kirchen von rund 500 Millionen Euro pro Jahr sollen auslaufen; sie werden bisher als Ausgleich dafür gezahlt, dass kirchliche Besitztümer im 19. Jahrhundert enteignet wurden.
Ferner will die Ampel Paragraf 219a des Strafgesetzbuches streichen, der die „Werbung“ für Abtreibungen erschwert. Mitarbeiter der FDP-Bundestagsfraktion zeigten sich darüber so begeistert, dass sie einen Video-Clip online stellten, der an eine Karnevalsfeier erinnerte.
Zusätzlich will die Ampel reproduktive Medizin erleichtern (Stichwort: Leihmutterschaft) und das kirchliche Arbeitsrecht dem weltlichen Arbeitsrecht anpassen; bisher gelten Kirchen als Einrichtungen, die aufgrund ihrer Andersartigkeit besondere Loyalität erwarten dürfen. Das gesamte Partnerschaftsrecht, das seit Gründung der Bundesrepublik 1949 überwiegend von einem verheirateten Ehepaar mit Kindern ausging, soll entsprechend der neuen Lebenswirklichkeit entrümpelt werden.
Mehr Defensive geht kaum
Man kann hier von einer Revolution sprechen. Und die Kirchen, heute ein Anbieter unter vielen auf dem Markt der Meinungen, wissen längst, dass sie dagegen chancenlos sind. So sagte die Präsidentin des Zentralkomitees der deutschen Katholiken, Irme Stetter-Karp, Ende vergangenen Jahres: „Im Bundestag wird die Zahl der Kirchenmitglieder immer kleiner. Wir betrachten es deshalb nicht als Selbstverständlichkeit, dass christliche Positionen automatisch gekannt und in jedem Fall berücksichtigt werden.“ Sie fügte hinzu: „Wir freuen uns auf Gespräche mit der künftigen Regierung!“ Mehr Defensive geht kaum.
Mit anderen Worten: Politik und Gesellschaft entwickeln sich in etwa synchron, weil sich die Politik im Kern an Mehrheiten ausrichtet.
Die wichtigere und interessantere Frage liegt eine Ebene darunter. Sie lautet, was die wachsende Verweltlichung mit der Gesellschaft selbst macht, ob und wie sie diese also qualitativ verändert. Darauf kann in Deutschland wohl niemand besser eine Antwort geben als der Politikwissenschaftler und Publizist Andreas Püttmann, der bereits 2010 das Buch veröffentlicht hat: „Gesellschaft ohne Gott“ – und der dabei auf den Spuren des berühmten Soziologen Émile Durkheim wandelt. Der Franzose, der 1917 starb, wies Religionen eine den Einzelnen stabilisierende und die Gesellschaft integrierende Funktion zu.
Püttmann sagt, Christen seien bei Fragen des Lebensrechts wie Abtreibung oder Sterbehilfe vorsichtiger mit Liberalisierungen. Damit bildeten sie ein Gegengewicht zur Mehrheit, das auch Liberale zu schätzen wissen sollten. Sie hielten sich im Zweifel stärker an Recht und Gesetz und seien in Debatten eher bereit, anderen auch mal entgegenzukommen – eine Bereitschaft, an der es heute in zahllosen Auseinandersetzungen eklatant fehlt.
Publizist Püttmann: Religionsgemeinschaften als „Demutsschulen“
Außerdem wählten Kirchenmitglieder seltener radikale Parteien wie die AfD und seien überhaupt „ein Bollwerk gegen selbstbezügliche Radikalisierungsspiralen“. Der Rechtspopulismus sei so gesehen „ein Symptom der Entchristlichung“, sagt Püttmann. Religionsgemeinschaften seien schließlich nicht zuletzt „Demutsschulen“, deren Mitglieder stets zuerst nach der eigenen Verantwortung zu fragen hätten, während Radikale häufiger dazu neigten, anderen die Schuld zuzuweisen, was unweigerlich zu mehr Polarisierung führe.
Der Rheinländer zitiert in diesem Zusammenhang den früheren Kölner Kardinal Joachim Meisner, der gesagt habe, Christen müsse Schwarz-Weiß-Denken fremd sein; sie seien sich bewusst, „dass wir alle Zebras sind“.
Püttmann erläutert ferner, dass Christen bei Lebensentscheidungen weniger konsumorientiert seien, sondern investiv dächten, in stabileren menschlichen Beziehungen lebten und millionenfach caritativ handelten, etwa bei Spenden und sozialem Engagement, ohne dass der religiöse Impuls dahinter sichtbar werde. „Das leuchtet selten auf“, sagt er. Kurzum: Dass weiterhin Millionen Deutsche zumindest noch christlich geprägt sind, wirkt sich aus – nur eben weithin im Verborgenen.
Keine „Befreiungsgeschichte“
Zu guter Letzt sei da noch das Moment der Völkerverständigung, das nach dem Zweiten Weltkrieg zur Schaffung der Europäischen Union beigetragen habe. Denn so wie ein Christ eigentlich nicht AfD wählen könne, so könne er eigentlich auch „nicht Nationalist sein“, sagt der Publizist, der betont, dass all diese Thesen keineswegs aus der Luft gegriffen, sondern in Umfragen oder Wahlanalysen empirisch gehärtet seien.
Der Politologe weiß um die Gefährdungen, die das Christentum mit sich bringt. Nicht alle seine Strömungen sind gegen rechtsextremes Denken immun. Erst kürzlich hatte der einstige Regensburger Bischof Gerhard Ludwig Müller im Kontext der Corona-Krise Verschwörungsmythen über eine angeblich geplante Gleichschaltung der Menschen und einen Überwachungsstaat verbreitet. Er sprach von Maßnahmen, hinter denen eine finanzkräftige Elite stecke – gemeinhin eine antisemitische Chiffre für angeblich jüdischen Einfluss.
Püttmann wird eigens zu kirchlichen Seminaren eingeladen, um auch „Pathologien des Religiösen“ herauszuarbeiten. Es bestehe ein Risiko, dass in schrumpfenden Kirchen autoritäre Gruppen relativ an Gewicht zunähmen, sagt er – und warnt dennoch ausdrücklich davor, in der Entchristlichung „nur eine Befreiungsgeschichte zu sehen“. Vielmehr überwögen kurz- wie langfristig ethische und soziale Verluste. „Alle haben ein Interesse daran, dass es die Kirchen gibt.“
Noch wirke sich die Säkularisierung nicht voll aus, sagt Andreas Püttmann. Aber irgendwann wohl doch – dann, wenn die Zahl der Kirchenmitglieder nicht mehr bei 50 Prozent, sondern bei 30 Prozent oder darunter liege. Es sei wie bei der Ökologie eines Sees, der immer wärmer werde und dennoch das Leben für Tiere und Pflanzen ermögliche, fährt er mit Blick auf die sozialen Folgen einer rein diesseitigen Lebenslogik fort. Irgendwann sei es zu viel. Dann kippe der See um.
Der Artikel "Niedergang der Kirchen: Wie das Land ohne Christentum aussähe" stammt von unserem Partner, dem RedaktionsNetzwerk Deutschland.