Nackt durch die Jahrhunderte
"Körperkulte" in Telgte
Ausgerechnet im Telgter Relígio-Museum sind nackte Leiber eingezogen: wohlgeformte Damen-Hintern aus Marmor, muskulöse Märtyrer, aufreizende Barbie-Puppen. Aber keine Sünde ohne Strafe: In der Mitte des Saals öffnet sich im Boden ein gähnender Schacht, und unten am Grunde lodert ein künstliches Höllenfeuer.

Ringer und Bodybuilder sorgten im deutschen Kaiserreich um 1900 erstmals für öffentliche Nacktheit.
Dennoch ist es aber vor allem die katholische Lehre, die hier das Spannungsfeld definiert. Denn die tausendfach diskutierten katholischen Idealvorstellungen von Keuschheit und Jungfräulichkeit kollidierten von Anfang an mit dem üppigen Bilder-Programm dieses Glaubens, das sich von den bilderlosen Bruderreligionen Judentum und Islam scharf unterscheidet. „Das Christentum zeigt einen Gott, der fast immer nackt ist“, sagt Museumsleiter Thomas Ostendorf. „Jesus liegt nackt in der Wiege und hängt fast nackt am Kreuz. Sein Körper ist dabei oft so schlank und muskulös, dass ihm kaum ein Mann gleichkommt.“
Auch Märtyrer wie der heilige Sebastian oder die vermeintliche Sünderin Maria Magdalena lieferten den Künstlern Anlass zu hüllenloser Darstellung. In der Ausstellung sind Beispiele zu sehen. Diese visuelle Leibfreundlichkeit verhinderte aber nicht, dass es im Alltag der Jahrhunderte mit Prüderie und Freizügigkeit auf und ab ging wie auf einer Wippe. Lucas Cranach feierte 1546 in seinem Gemälde „Der Jungbrunnen“ ausgiebig die Reize weiblicher Körper – in Telgte ist eine Kopie zu sehen. 450 Jahre später posierten höhere Töchter im Kaiserreich so hochgeschlossen, als würden Sonnenstrahlen töten.
Allerdings begannen um 1900 die Hüllen zuerst bei den Männern zu fallen: Es bildete sich eine Bodybuilder- und Ringerszene, die sich gern aufreizend ablichten ließ – das Museum zeigt eine stattliche Auswahl. Nach dem Ersten Weltkrieg wanderten auch bei den Frauen Rocksäume und Blusenärmel nach oben. Freikörperkulturfreunde organisierten sich zunächst in Vereinen, dann wurde FKK zu einem zwanglosen Massenphänomen. Und heute? Während sich Nacktheit im Internet austobt wie nie zuvor, schlägt das Pendel in der analogen Welt in die Gegenrichtung. Selbst bei einem so kontroversen Schönheitssymbol wie der Barbie-Puppe. Mit einer großen Sammlung beschert das Relígio die verblüffende Erkenntnis, dass Barbies von heute im Gegensatz zu ihren Plastik-Großmüttern nicht mehr nackt sind – sie tragen eingestanzte Höschen.
Sogar Keuschheit bis zur Ehe wird in frommen amerikanischen Kreisen wieder feierlich versprochen, allerdings eher von Frauen als von Männern. Vom Körperkult ist es immer nur ein kurzer Schritt bis zum Jugendwahn. Hier steuert das Museum gegen: mit schönen Fotografien von Ronald Vogel, die teils sehr alte Menschen in Botox-freier Würde und Heiterkeit zeigen.
Einen Raum weiter hängen dann (sehr behutsame) Fotos von toten Menschen. Denn jeder Körperkult, jede Schönheit endet. Und dann? Museumsleiter Thomas Ostendorf steht am Rand der schrillen Modell-Hölle und sagt nonchalant einen bombastischen Satz: „Die Hölle ist eine Erfindung – im Gegensatz zum Himmel.“ Wie schön wäre es, wenn er Recht behalten würde.