Nach der Flucht ist vor der Flucht
Portrait
Mit verächtlichen Blicken fing es an. Dann kamen die Schreie. „Russenschweine!“, brüllten Nachbarn immer wieder über die Straße. Kurz darauf flogen Steine auf Larissa Boguta und ihre Familie. 1997 kam die damals 27-jährige mit ihrer Familie als Spätaussiedlerin aus Kasachstan in den kleinen thüringischen Ort Berga/Elster. Hier erzählt sie von ihren Erlebnissen.

Larissa Boguta
„Diese Menschen waren nicht böse, sondern verzweifelt. Sie hatten einfach nur keine Erfahrung mit Leuten wie uns“, erinnert sich Larissa an ihre ersten Erfahrungen als Spätaussiedlerin.
Sie ist eine von knapp 40.000 Wolga-Deutschen, die nach dem Fall der Sowjetunion in die Heimat ihrer Vorfahren zurückgekehrt ist. Larissa Boguta streicht sich eine blonde Strähne aus ihrem sanften, gutmütig wirkenden Gesicht und erzählt weiter von ihren ersten Erfahrungen mit den Menschen, die laut Pass schon immer ihre Landsleute sind. „Wir wohnten in einem Wohnheim für Spätaussiedler, waren die einzigen Ausländer im Ort und jeder in Berga/Elster kannte uns“, verrät sie und betont, „auf der Straße nur noch geflüstert“ und „grundsätzlich kein russisch gesprochen“ zu haben. Alles nur aus Angst, wieder drangsaliert zu werden. „Mama hat all diesen Hass nur schwer ertragen“, erzählt sie leise, denn ihre Mutter habe sich schon immer als Deutsche gesehen und sei der „Motor für die Einreise“ gewesen. Dementsprechend hielten es ihre Eltern nicht lange in Thüringen aus und zogen bereits vor der Jahrtausendwende zu Larissas Tante nach Wuppertal.
Zwischen zwei Kulturen
Larissa selbst aber blieb in der 3000-Seelen-Gemeinde, denn sie hatte gerade erst ihre Ausbildung zur Heilpädagogin angefangen und wollte diese auch beenden. „Ich war die einzige Ausländerin auf der Berufsschule. Die zweite in der Geschichte!“. Daher habe sie auch hier jeder gekannt. Zuvor habe sie in Kasachstan ihr Diplom in Pädagogik und Psychologie gemacht, erwähnt sie ganz beiläufig und bescheiden.
„Eigentlich wäre ich gerne in Thüringen geblieben“, betont sie, denn Natur und Umgebung im Vogtland waren „wunderschön“. Aber Vorurteile, Beschimpfungen und Rassismus seien in Thüringen Alltag gewesen. Trotzdem verurteilt Larissa das Verhalten ihrer Landsleute nicht: „Die kannten uns einfach nicht. Wir waren doch ganz normale mittelständische Leute. In Kasachstan hat meine Mutter sogar deutsch gekocht und noch heute esse ich gerne Sauerbraten und Sauerkraut“, schmunzelt die schlanke 45-Jährige, und kleine Lachfältchen breiten sich in ihrem Gesicht aus. Der nationalistische Umschwung in Kasachstan und die zunehmende Diskriminierung der Wolga-Deutschen nach dem Fall der Sowjetunion habe ihre Familie jedoch fortgetrieben. „Die Kinder haben auf einmal Kasachisch in der Schule gelernt, wir kannten nur Russisch.“
Die Toleranz und Vielfalt, die Larissa an ihrer Heimat liebte, wichen langsam aber unumgänglich einem kasachischen Nationalstolz, der sich mit ihrer russischen Sprache und der deutschen Kochkunst ihrer Mutter nur schwer vereinen ließ. Die Heimat der Vorfahren rief. „Das Kapitel Kasachstan war für uns abgeschlossen. Wenn wir nicht nach Deutschland gezogen wären, dann wären wir woanders hin gegangen“, betont sie und erzählt von ihrer Schwester, die heute in Russland lebt. In Kasachstan war sie „die Deutsche“, in Deutschland dann „die Russin“.
Richtig laut, statt leise flüsternd
Das war nicht überall so. In diesem Zusammenhang erinnert sie sich an einen Besuch kurz nach der Jahrtausendwende: „Wir waren damals bei einer Freundin im Westen zu Gast“, holt Larissa aus, und ihre Augen strahlen, als würden die Bilder vor ihrem inneren Auge ablaufen. „Sie hat uns vom Bahnhof in Cloppenburg abgeholt, und wir sind dann mit einem Cabrio gefahren.“ Dabei habe ihre Freundin die Musik „richtig laut aufgedreht“: „t.A.T.u“, die international erfolgreichste russische Band aller Zeiten, die damals auch die deutschen Charts stürmte. „Für uns unvorstellbar“, lacht sie heute über ihre fast schon schockierte Reaktion damals: „Das ist laut und das ist russisch“, habe sie gesagt. Die Reaktion ihrer Freundin sei hingegen beinahe banal gewesen: „Ja und? Mir gefällt die Musik! Warum soll ich mich verstecken?“
Nicht ohne Grund wohnt Larissa seit dem Jahr 2000 nun also ebenfalls in Nordrhein-Westfalen, wie die Eltern, in Wuppertal. Ihr Leben spielt sich jetzt hier ab. Sie hat einen deutschen Lebensgefährten, eine eigene Wohnung, liest, näht und liebt Yoga. Auch den aktuellen Fitnesstrend nimmt sie mit: „Man wird ja nicht jünger“, sagt sie und lacht. Viel sowjetische Kultur steckt nicht mehr in ihr - abgesehen von ihrem Akzent. Darauf wird sie ständig angesprochen.
„An manchen Tagen ist das echt nervig. Immer wieder diese Fragen: „Wo kommst du denn her?“, „Wieso bist du hier?“, oder „Warum gehst du nicht zurück?“. Larissa atmet durch und ergänzt: „Manchmal verlieren die Menschen wirklich die Distanz.“ Sie rutscht auf ihrem Stuhl hin und her. „Einmal, als ich in eine neue Wohnung gezogen bin, waren die Leute am Telefon total unfreundlich, wegen meines Akzents“, moniert sie, relativiert dann aber: „Als ich sie dann aber in der Wohnung getroffen habe, waren sie total nett!“ Auch auf der Arbeit wird sie häufig auf Grund ihres Akzents vorerst unterschätzt. „Ich muss immer erst beweisen, dass ich gar nicht blöd bin!“, scherzt sie.
Das Kapitel Kasachstan ist abgeschlossen
Larissa arbeitet im knapp 20 Kilometer entfernten Gevelsberg und hilft zwölf- bis 27-jährigen Migranten, in Deutschland anzukommen. „Ich helfe ihnen, Arbeit zu finden, Ausbildungen anerkannt zu bekommen und sich hier zu integrieren.“ Dabei erkennt sie sich oft selbst in den Menschen, mit denen sie arbeitet, wieder: „Man wird momentan quasi gezwungen, sich zu erinnern.“ Zwar sei sie mit dem Flugzeug eingereist und habe nicht vor Krieg und Elend fliehen müssen, aber trotzdem war auch sie gezwungen, ihre ganze Welt in nur einen Koffer zu packen und ein neues Leben zu beginnen. „Am wichtigsten war mir die Schatulle meiner Großmutter. Sie erinnert mich an die Kindheit in Kasachstan. Wenn andere im Kindergarten waren, war ich bei Oma und Opa. Das war Luxus!“
Trotz all dieser Erinnerungen trieb es Larissa bis heute nicht ein einziges Mal zurück in das Land ihrer Jugend. Weil niemand mehr dort ist. „Ich schaue manchmal bei Google Earth, ob unser Haus noch steht, oder gucke mir Internetseiten der Stadt an. Aber mehr auch nicht“, erklärt sie nüchtern. „Da ist keiner mehr, den ich kenne. Heimat sind die Menschen, die mir lieb sind. Und die sind alle in Deutschland.“