
Bettina Mönch singt und tanz die Sally Bowles im Kit-Kat-Club mit viel Federboa und Strapsen. © Hickmann
Musical „Cabaret“ bietet beste Unterhaltung trotz nachdenklicher Töne
Premiere im Dortmunder Opernhaus
20 Jahre lang war das Musical „Cabaret“ nicht mehr in Dortmund zu sehen. In Gil Mehmerts Neuinszenierung dreht sich ein „Berlin-Karussell“ im Opernhaus.
Mit zwei Jahren Corona-Verspätung hat am Samstag mit viel Federboa-Knistern und nackter Haut der legendäre Kit-Kat-Club auf der Bühne des Dortmunder Opernhauses erstmals geöffnet. Gil Mehmerts Inszenierung von John Kanders Musical „Cabaret“ ist drei Jahre nach der Premiere an der Volksoper Wien, aber punktgenau zum 50. Jahrestag der Filmpremiere 1972 herausgekommen.
In Bad Hersfeld hat diese Inszenierung bereits 2015 begeistert. Das Publikum weiß also, was es in Dortmund bekommt: beste (und nachdenklich machende) Unterhaltung und eine 2021 mit dem Österreichischen Musicalpreis ausgezeichnete Produktion, die wunderbar an die Vorjahres-Revue „Berlin Skandalös“ anschließt.
Bettina Mönch als Sally Bowles erinnert an Liza Minnelli
Gil Mehmert, der seit einem Jahrzehnt in Dortmund alle Musicals zu Publikums-Erfolgsstücken macht, lehnt sich eng dem Film an. Seine Sally Bowles (Bettina Mönch) sieht aus wie die Oscar-prämierte Liza Minnelli im Film (Kostüme: Falk Bauer), und Mehmert dreht auf der Bühne ein „Berlin-Karussell“, sodass ein filmischer Eindruck entsteht.
Der Regisseur lässt uns in die zweistöckige Pension von Fräulein Schneider (rührend in ihrer Liebe zu dem jüdischen Obsthändler: Cornelia Dreese) schauen. Frivoles Matrosen-Liebesleben ist in der Alt-Berliner-Pension genauso zu Hause wie im Kit-Kat-Club auf der Rückseite der Bühne. Dort feiern die Berliner ins Jahr 1930 und in ein Jahrzehnt, mit dem die Kehrseite des lustigen Lebens beginnt.
Regie lotet Zwischentöne des Musicals perfekt aus
Von diesen Zwischentönen lebt Kanders Musical. Das Revue und Rührstück, Komödie und Tragödie ist. Die Regie lotet das glänzend aus – im zweiten Teil mit noch mehr Tiefe als im ersten.
Da dominiert die junge Liebe zwischen Sally Bowles und dem Amerikaner Clifford Bradshaw, und da zeigt Mehmert im Club das frivole, freche, pralle, lustvolle Leben – mit drallen Körpern und mit Musik und Tanz. Statt Showtreppe gibt es in dem Glitzer-Etablissement die Tastatur eines Riesenflügels, über die der Conférencier balanciert. Und die Band aus Dortmunder Philharmonikern spielt im erhöhten Graben unter Damian Omansen mitreißend.
Waren die Menschen der 1920er-Jahren vergnügungssüchtig oder nur Zweckoptimisten?
Waren die vergnügungssüchtigen Menschen dieser Zeit Traumtänzer oder Zweckoptimisten? Kann das heiße Leben im Club die fröstelnde Kälte, die in dieser Zeit und Inszenierung aus allen Ecken kriecht, übertünchen?
Diese Fragen stellt „Cabaret“. Und je leiser die Töne werden, umso mehr geht dieses Musical unter die Haut.
Karrierefrau in Strapsen und ein anrührender Herr Schulz
Bettina Mönch wirkt ein wenig androgyn als Sally, ist mehr Vamp als charmante Frau – eine Karrierefrau in Strapsen, der man abnimmt, dass sie an das Glück glaubt, wenn sie mit großer Stimme und Ausstrahlung „Maybe this time“ singt. Tom Zahner ist ein anrührender Herr Schultz, der bis zum Schluss an das Gute der Menschen glaubt. Da hat Clifford (glaubwürdig in seiner Beflissenheit und Liebe zu Sally: Jörn-Felix Alt) schon längst die Koffer gepackt und ist nach Amerika zurückgereist.
Das Premierenpublikum feierte „Cabaret“ euphorisch. Dieses „Berlin-Karussell“ erzählt auch 100 Jahre später so viel vom schmalen Grat zwischen Vergnügen und Verzweiflung. Unbedingt anschauen!
Begleitet und beobachtet seit 35 Jahren für die Zeitung das Kulturleben in Dortmund und in der Region.
