Mehr als eine bewegende Geschichtsstunde
Kino: "Im Labyrinth des Schweigens"
Miefig, spießig, konservativ: Deutschland im Jahre 1958. Auferstanden aus Ruinen und inzwischen auf dem Weg in die Wohlstandsgesellschaft. Die Wirtschaftswunderjahre sind angebrochen. Kein Blick mehr zurück. Vergangen, vergessen, verdrängt.
„Dieses Land will Zuckerguss – die Wahrheit will es nicht wissen!“ So bringt es ein Überlebender des Vernichtungslagers auf den Punkt. Auch der junge Staatsanwalt Johann Radmann (Alexander Fehling aus „Goethe!“) ist von beschämender Unwissenheit über Auschwitz. Bis ihn ein Journalist der Frankfurter Rundschau auf einen Mann aufmerksam macht, der dort als Aufseher tätig war und nun unbehelligt als Lehrer arbeitet. Radmanns Kollegen wollen eine Anzeige gegen ihn nicht zulassen. Er recherchiert trotzdem, überschreitet mutig Kompetenzen, stößt auf eine Mauer des Schweigens, auf unverhohlenen Widerstand. Die Mörder sind unter uns.
Kaum jemand will mit Radmann kooperieren. Bis auf einen: Der hessische Generalstaatsanwalt Fritz Bauer – gespielt von dem im Juli verstorbenen Gert Voss – überträgt Radmann ganz offiziell die Aufgabe, gegen die ehemaligen Schergen des Nazi-Regimes zu ermitteln. Opfer und Täter werden vernommen. Tausende Akten gesichtet. Die Monstrosität der Verbrechen in den Konzentrationslagern findet im entsetzten Gesicht einer Protokollantin visuell Widerhall. Mehr muss dazu nicht gesagt oder gezeigt werden. Es sind die stärksten Szenen im Debütfilm von Giulio Ricciarelli, der mit seiner behutsamen Inszenierung größtmögliche Wirkung erzielt. „Im Labyrinth des Schweigens“ verfolgt den Fall bis ins Jahr 1963, bis zu dem Tag, an dem vor dem Schwurgericht in Frankfurt am Main der erste Auschwitz-Prozess begann. Danach konnte in diesem Land wahrlich niemand mehr behaupten, von Auschwitz und seiner barbarisch-mörderischen Funktion noch nie etwas gehört zu haben. Heute heißt es eher: „Ich kann’s nicht mehr hören!“ Der zweite große Verdrängungsprozess ist schon längst im Gange.