Lauterbachs „Killervarianten“-Prognose: Wie realistisch ist sie?
Coronavirus
Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach warnt vor einer „Killervariante“, die im Herbst in Deutschland grassieren könnte. Ist das bloße Panikmache? Oder eine begründete Warnung? Eine Analyse.

Wie sich das Coronavirus weiter entwickeln wird, lässt sich nicht voraussagen. © unsplash
Wieder einmal klingt die Prognose von Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) zum weiteren Verlauf der Corona-Pandemie wenig optimistisch: Im Interview mit der „Bild am Sonntag“ warnte Lauterbach vor einer erneuten Infektionswelle im Herbst – und der Entstehung einer neuen „Killervariante“. Es sei durchaus möglich, „dass wir eine hochansteckende Omikron-Variante bekommen, die so tödlich wie Delta ist“, sagte er. Aber wäre eine solche „Killervariante“ tatsächlich ein Problem für Deutschland?
Wie Virusmutationen entstehen
Zunächst einmal ist das von Lauterbach beschriebene Szenario zur weiteren Evolution des Coronavirus keineswegs unrealistisch. Es gibt jedoch keine Garantie dafür, dass es eintritt. „Keine Expertin und kein Experte kann derzeit sicher sagen, welche Variante wir im Herbst bekommen“, sagte der Leiter der Klinik für Intensivmedizin am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf, Stefan Kluge, der Funke Mediengruppe. Das liegt daran, dass die Evolution des Coronavirus nicht vorhersehbar ist.
Sars-CoV-2 verändert sich permanent. Das liegt in der Natur der Viren. Um sich überhaupt vermehren zu können, brauchen sie einen Wirt wie den Menschen. Gelangen die Krankheitserreger in die menschlichen Zellen, speisen sie ihr Erbgut in die Zellkerne ein, die daraufhin virale RNA produzieren, woraus sich schließlich neue Viren bilden können. Bei der Vervielfältigung der Virus-RNA im Zellkern kann es jedoch zu Kopierfehlern kommen, Gensequenzen verändern sich. So entstehen neue Varianten des Erregers.
Forscherinnen und Forscher konnten etliche neue Corona-Varianten seit Beginn der Pandemie detektieren. Ihre genetischen Merkmale lassen sich in Datenbanken wie „Nextstrain“ finden. Die gute Nachricht ist: Nicht jede der entdeckten Virusvarianten hat unmittelbar zu vermehrten Infektionen, geschweige denn zu Ausbrüchen geführt. Denn nicht jede neue Mutation bietet dem Coronavirus unbedingt einen Selektionsvorteil.
WHO beobachtet Omikron-Subtypen
Fünf Corona-Varianten haben es hingegen geschafft, aus der Masse herauszustechen: Alpha, Beta, Gamma, Delta und Omikron – von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) als „besorgniserregend“ eingestuft. Zu Omikron zählt die Organisation mittlerweile auch den Subtypen BA.2, also die Virusvariante, die gerade in Deutschland dominiert. Auch BA.3, BA.4, BA.5 beobachtet die WHO, obwohl diese Omikron-Versionen bislang nur wenig verbreitet sind. Für Bundesgesundheitsminister Lauterbach sind sie dennoch ein Grund zur Sorge.
Zumal über die Eigenschaften der Omikron-Subvarianten noch nicht viel bekannt ist. Es könnte sein, dass sie unter Umständen krankmachender oder immunflüchtiger sind als der jetzige Omikron-Subtyp BA.2. Dass in Deutschland gerade eine verhältnismäßig milde Virusvariante zirkuliert, ist eine gute Nachricht, weil weniger Menschen schwer erkranken, wenn sie sich infizieren, was wiederum die Belastung der Krankenhäuser, insbesondere der Intensivstationen, reduziert. Die nächste Corona-Variante, die sich gegen BA.2 durchsetzt, muss aber nicht automatisch für noch mildere Verläufe sorgen.
Auch Rekombinationen möglich
„Es können auch wieder Virusvarianten entstehen, die schwerere Krankheitsverläufe verursachen“, mahnte Virusevolutionsexperte Richard Neher vom Biozentrum der Universität Basel (Schweiz) Anfang Februar im Interview mit dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND). Ähnlich äußerte sich Intensivmediziner Kluge: „Wir sollten darauf vorbereitet sein, dass noch einmal eine Variante kommen kann, die zu einer höheren Krankheitsschwere führt, als dies derzeit bei der Omikron-Variante der Fall ist.“
Dabei muss es sich nicht unbedingt, um einen Subtypen von Omikron handeln. Auch Rekombinationen – also Virusvarianten, die genetisches Material zweier unterschiedlicher Corona-Varianten besitzen –, wie sie derzeit in Großbritannien nachgewiesen werden, könnten schlimmstenfalls mit schwereren Verläufen einhergehen und eine mögliche Infektionswelle auslösen. Genauso ist es möglich, dass eine ganz neue Variante entsteht. Auch solche Überraschungen hat es im Verlauf der Pandemie gegeben – zum Beispiel mit Omikron.
Virologe Streeck: Deutschland besitzt „guten Basis-Schutz“
Doch was würde es für das weitere Infektionsgeschehen in Deutschland bedeuten, wenn sich eine Virusvariante durchsetzt, die hochansteckend ist und schwere Krankheitsverläufe verursacht?
„Deutschland hat eine hohe Impfquote und etliche Genesenen und damit einen guten Basis-Schutz“, merkte Virologe Hendrik Streeck von der Universität Bonn im Gespräch mit der „Bild“ an. Mehr als die Hälfte der Deutschen hat inzwischen eine Auffrischungsimpfung erhalten, wie Daten des Bundesgesundheitsministeriums zeigen. Dieser dreimalige Impfschutz hilft dabei, Infektionen mit dem Coronavirus vorzubeugen beziehungsweise schwere bis tödliche Krankheitsverläufe zu verhindern.
Dreifacher Kontakt mit Virusprotein bietet besten Schutz
Die Impfungen bieten aber keinen hundertprozentigen Schutz. Hinzu kommt, dass gerade der Schutz vor Infektionen mit der Zeit nachlässt. Das heißt, auch Geimpfte und Geboosterte können sich irgendwann wieder mit dem Coronavirus infizieren, erkranken dann in der Regel aber weniger schwer als Ungeimpfte.
Auch eine zweifache Impfung schützt zu einem gewissen Grad vor Infektionen und schweren Verläufen. Damit qualitativ hochwertige Antikörper im Körper entstehen, die in der Lage sind immunflüchtige Virusvariante Omikron zu neutralisieren, braucht es nach Einschätzung der Gesellschaft für Virologie aber einen dreimaligen Kontakt mit dem Oberflächenprotein des Coronavirus, dem Spikeprotein. Eine Person sollte also entweder dreifach geimpft, zweifach geimpft und einmal genesen oder genesen und zweifach geimpft sein.
Je gefährlicher das Virus, desto mehr Krankheitsfälle treten auf
Eine Impfung sollte dabei der Infektion vorgezogen werden, weil sie erstens grundsätzlich mit weniger schweren Nebenwirkungen einhergeht; weil sie zweitens zuverlässiger das Immunsystem stimuliert und für eine ausreichende Menge qualitativ hochwertige Antikörper sorgt; und weil sie drittens einen breiteren Schutz vor Virusvarianten bietet. Denn wie mehrere Studien nahelegen, sorgt eine Infektion mit den vorherigen Virusvarianten Alpha und Delta nicht für einen adäquaten Schutz vor Omikron, und gleichzeitig ist es möglich, dass sich Omikron-Infizierte mit anderen Corona-Varianten infizieren.
Der nachlassende Impfschutz, die variable und teils unzureichende Immunität von Genesenen, sowie der nach wie vor hohe Anteil von Ungeimpften (23,4 Prozent) haben zur Folge, dass es auch in Zukunft immer wieder Menschen geben wird, die sich mit dem Coronavirus infizieren – und die schwer erkranken oder sogar versterben werden. Je krankmachender die dominierende Virusvariante ist, desto größer ist die gesundheitliche Gefahr und desto größer könnte die Belastung für die Kliniken ausfallen.
Pharmahersteller arbeiten an Virusvarianten-Impfstoffen
Der Schweizer Virusevolutionsexperte Neher geht außerdem davon aus, dass sich „eine sukzessive Evolution des Coronavirus in Richtung Immunevasion“ zeigen wird. Das bedeutet: Es könnten zukünftig Virusvarianten entstehen, die besser darin sind, das menschliche Immunsystem zu überlisten. Auch die Wirksamkeit der Impfstoffe könnte damit nachlassen.
Gänzlich unbrauchbar werden die Corona-Vakzine aber wohl nicht werden – vorausgesetzt, das Spikeprotein, welches die Grundlage und der Angriffspunkt für die Wirkstoffe ist, verändert sich nicht übermäßig. Pharmaunternehmen wie Biontech/Pfizer und Moderna arbeiten bereits an Impfstoffen, die an Virusvarianten wie Omikron angepasst sind.
Bundesgesundheitsminister Lauterbach rechnet damit, dass ein solches Vakzin ab September eingesetzt werden kann. „Unser Ziel ist, möglichst genug Impfstoff für jeden Bürger zu haben, egal welche Variante kommt“, sagte er der „Bild am Sonntag“. „Dann haben wir sowohl für eine Omikron- als auch für eine Delta-Variante ein Gegenmittel.“ Dann sei man auf alles vorbereitet.
RND
Der Artikel "Lauterbachs „Killervarianten“-Prognose: Wie realistisch ist sie?" stammt von unserem Partner, dem RedaktionsNetzwerk Deutschland.