Neue Qualen verhindern: Über den Umgang mit Kindesmissbrauchsopfern

Kindesmissbrauch

Immer neue Fälle von Kindesmissbrauch kommen ans Licht. Um gegen die Täter vorgehen zu können, braucht es auch die Aussagen der jungen Opfer. Dabei müssen sie vor neuen Qualen geschützt werden.

Köln

von Yuriko Wahl-Immel

, 03.08.2022, 09:00 Uhr / Lesedauer: 3 min

Eine ganze Reihe von Fällen sexueller Gewalt an Kindern schockiert das Land: im Tatkomplex Münster, im Fall Lügde, die Taten von Bergisch Gladbach. Und der brutale Fall von Wermelskirchen, bei dem nach neusten Angaben der Kölner Staatsanwaltschaft inzwischen gegen 85 Beschuldigte ermittelt wird.

Um die Verbrechen aufzuklären und Täter zu verurteilen, brauchen Ermittlungsbehörden und Gerichte oft auch die Aussagen der Opfer. Wie lässt sich verhindern, dass den an Körper und Seele verletzten Jungen und Mädchen dann erneut Qualen zufügt werden?

„Es gilt, eine weitere Traumatisierung der jungen Geschädigten zu verhindern“, sagt der Kölner Staatsanwalt Christoph Hebbecker. Im Fall Wermelskirchen, bei dem viele Opfer sehr jung und einige geistig beeinträchtigt seien, werde von einer Befragung teilweise auch abgesehen. Es werde vorher individuell geprüft, „ob mit hoher Wahrscheinlichkeit wichtige Aussagen für einen Tatnachweis zu gewinnen sind“.

Kleine Kinder könnten zu jung sein, um eine Erinnerung zu haben. Schwierig sei auch, dass häufig ein Verdrängungsmechanismus einsetze. Sei ein Tatnachweis auf andere Weise möglich, also etwa Bildmaterial von den Gewalttaten vorhanden, könne im Einzelfall auf die Vernehmung verzichtet werden.

Umgang mit Opfern muss kindzentriert und altersgerecht sein

Das Kindeswohl muss Ausgangspunkt aller Verfahren sein, betont Astrid Helling-Bakki, Geschäftsführerin von Childhood Deutschland. Das sei aber „nicht flächendeckend verinnerlicht“, auch wenn das Bewusstsein dafür in den letzten Jahren zunehme. Der Umgang müsse kindzentriert und altersgerecht sein. Kinder und Jugendliche sollten entsprechend ihrer Entwicklung angesprochen und über das anstehende Verfahren aufgeklärt werden, warum man ihre Aussagen brauche.

In den bisher acht Childhood-Häusern in Deutschland erhalten Kinder und Jugendliche, die körperliche und sexualisierte Gewalt erlebt haben, im geschützten Umfeld alle wichtigen Hilfen. Sie werden in kinderfreundlicher Atmosphäre über den gesamten Verlauf hinweg - auch bei Untersuchung und Vernehmung - begleitet, medizinisches und psychologisches Personal ist vor Ort.

Eine Justizbeamtin zeichnet die Aussage eines Missbrauchsopfers in einem Childhood-Haus auf.

Eine Justizbeamtin zeichnet die Aussage eines Missbrauchsopfers in einem Childhood-Haus auf. © picture alliance/dpa

Polizei, Justiz und Jugendamt kooperieren, die Befragung des Kindes wird unter einem Dach auf ein Minimum reduziert und zeitlich gestrafft. Die Vernehmung des Opfers wird aufgezeichnet - um „konserviert“ zu werden bis zur Gerichtsverhandlung, wie Helling-Bakki erläutert.

Beim Nationalen Rat gegen sexuelle Gewalt an Kindern und Jugendlichen heißt es, in Deutschland seien die Vorgaben für kindgerechte Verfahren noch nicht überall gleichermaßen konsequent umgesetzt. Der „Praxisleitfaden“ des Rats vom Juli 2021 soll Polizeibehörden, Staatsanwaltschaften und Gerichte unterstützen.

Vernehmung der Kinder stellt immer eine Belastung dar

Empfohlen werden etwa passend gestaltete Vernehmungszimmer, Ton- und Videoaufzeichnung, beschleunigte Verfahren und Befragungen nur durch qualifiziertes Personal. Die Vernehmungsperson müsse sich mit Entwicklungspsychologie auskennen und eine „Trauma-Informiertheit“ vorweisen, schildert Helling-Bakki.

Bei Ausbildung und Kompetenz sehe es faktisch aber unterschiedlich aus - „beunruhigend“ findet die Expertin das. „Wir brauchen einen einheitlichen bundesweiten Mindeststandard.“ Klar sei: „Egal wie gut ein Kind befragt wird, eine Belastung stellt die Vernehmung immer dar.“

„Eine hochkonfliktreiche Lage“: Oft kommen die Täter aus dem familiären Umfeld oder dem engeren sozialen Umfeld. Gerade bei sexualisierter Gewalt sei ein positives und negatives Abhängigkeitsgefühl typisch für die Kinder, weiß Helling-Bakki. „Sie haben oft eine enge Bindung trotz allen Leids. Es gibt eine emotionale Abhängigkeit, Gefühle von Angst bis Liebe.“

Die jungen Opfer seien häufig noch nicht in der Lage, das Geschehene einzuordnen, das Erlittene als Unrecht zu begreifen. „Egal wie schlimm es war, viele wollen nicht, dass der Onkel ins Gefängnis geht.“ Dann könne es besonders schwierig sein, an die Kinder heranzukommen.

Die Childhood-Geschäftsführerin mahnt: Eine stabilisierende therapeutische Maßnahme dürfe nicht bis zu einer Vernehmung oder einem Prozess aufgeschoben werden, in der Hoffnung, so möglichst unverfälschte Aussagen zu erhalten.

Wichtig ist eine möglichst frühe Befragung

Unterstützende Hilfen seien auch ohne inhaltliche Einflussnahme möglich und könnten geboten sein, um Schaden für Gesundheit und Psyche abzuwenden. Das habe auch der Bundesgerichtshof klargestellt. Leider komme es aber nicht selten zu solchen Fehlern.

Die Verfahren müssten verständig und einfühlsam geführt werden, unterstreicht das Justizministerium in Nordrhein-Westfalen. Auch um Mehrfachbefragungen unnötig zu machen, sei in der Justiz flächendeckend ein mobiles System mit Kameras und Aufzeichnungssoftware im Einsatz, sagt ein Sprecher. Das Amtsgericht Düsseldorf führe die Videovernehmungen im dortigen Childhood-Haus durch. Für Richter, Staatsanwälte und andere Justizangehörige gebe es Fortbildungsprogramme.

Im drastischen Missbrauchsfall Lügde 2019 hatte die Vorsitzende Richterin des Landgerichts Detmold, Anke Grudda, besonderes Gewicht auf ein behutsames Vorgehen gelegt. Sie hatte die Kinder strikt abgeschirmt und ihre schwarze Robe abgelegt, um sie nicht einzuschüchtern. Die beiden Angeklagten wurden zu langjährigen Haftstrafen und Sicherungsverwahrung verurteilt.

Wichtig ist Helling-Bakki zufolge auch eine möglichst frühe Befragung. Je jünger das Kind, desto schneller drohe die Erinnerung zu verblassen oder verfälschen. Und sie betont: „Droht eine gravierende Schädigung des Kindes, kann es berechtigt sein, auf eine Anzeigeerstattung zu verzichten.“

dpa