Katharina Thalbach erinnert an Thomas Brasch
Lyrik-Lesung
MÜNSTER. Man möchte nicht entscheiden, was eindrucksvoller ist: die kraftvolle, teils poetische, teils deftige Sprache von Thomas Brasch oder die Interpretation seiner vielen Stimmen durch Katharina Thalbach.

Katharina Thalbach wurde vom Publikum begeistert gefeiert.
Thomas Brasch (1945-2001) galt als streitbarer Künstler. Er war Erzähler, Übersetzer, Dramatiker, Drehbuchautor, Regisseur und Lyriker. Lange Jahre war Katharina Thalbach die Frau an seiner Seite. Kennen gelernt haben sie sich bereits, als die Thalbach 15 war. „Ich hatte das Glück, mit Thomas zu leben, zu streiten und zu arbeiten“, sagt sie rückblickend. Auch nach Ende der Liebesbeziehung seien sie als Arbeits-Team verbunden geblieben. Einen kleinen Teil des Werkes von Thomas Brasch – Lyrik und Prosa, sogar unveröffentlichte Texte – las die Schauspielerin nun beim Poetry-Programm vor Münsters Lyrikertreffen. 1981 im Zürcher Schauspielhaus. Der heute zweifache Oscar-Gewinner Christoph Waltz liegt am Fuß einer meterhohen Bühnenschräge. Katharina Thalbach steht in aufregenden Stilettos am oberen Ende. Er Hamlet, sie Ophelia. In wenigen Augenblicken soll sie einen eineinhalb Seiten langen Monolog beginnen. Den jedoch haben ihr Regisseur Matthias Langhoff und Autor Thomas Brasch erst vor einer Stunde in die Hand gedrückt. Sie solle, so hätte es ihr das Duo erklärt, nach unten schreiten, elegant über Waltz hinüber steigen und dann „den Monolog dem Publikum in die Fresse schleudern“. Gesagt, getan: Sie schritt, fiel und habe „gefühlte 20 Minuten“ auf Christoph Waltz gelegen. Dann spie sie voller Wut den Text hinaus.
Es handelte sich um einen kafkaesken Monolog über Regeln, deren Verstöße und Einhaltung. Im Rathausfestsaal bringt Katharina Thalbach in irrwitzigem Tempo die Zeilen erneut zu Gehör. Bereits nach wenigen Sätzen fällt es schwer, dem Text inhaltlich noch zu folgen. Die Absurdität der Situation treibt das Anliegen von Thomas Brasch auf die Spitze. Er sei oft gefragt worden, warum er sich so wenig konkret zu dem System der DDR geäußert habe, berichtet Thalbach. Doch hätten seine Texte eine solche „Kraft und Verletzlichkeit, die nicht an eine Zeit gebunden“ seien. Er sei kein dissidentischer DDR-Dichter. „Die Flüchtigkeit zwischen beiden Deutschlands hat ihn erschreckt“, sagt sie. In bunter Reihenfolge mischt Thalbach groteske Kunstmärchen mit lyrischen Parabeln und humorvollen Zeitdokumenten. Eine Geschichte über Marilyn Monroe habe Brasch einst für ihre Tochter Anna geschrieben, erzählt sie. Bei der Auswahl darf sie nicht fehlen. Anlass zu der Lesung gab die Neuerscheinung „Die nennen das Schrei“ (Suhrkamp, 49,95 Euro), in der erstmals die gesammelten Brasch-Gedichte vereint sind. Einprägsam erklingt die Stimme des Autors in seinem „Lied“ aus dem Jahr 1977: „Bleiben will ich, wo ich nie gewesen bin.“ Dies sei eines ihrer Lieblingsgedichte, sagt Katharina Thalbach. Standing Ovations im Rathausfestsaal.