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Kanzler Olaf Scholz – in der Krise liegt die Kraft
Krieg gegen die Ukraine
Bundeskanzler Olaf Scholz bricht in den ersten 100 Tagen mit Werten seiner Partei und des Landes. Er kann ein großer Kanzler werden oder scheitern – für Normalität ist kein Platz.
Es gibt diese Momente in der Politik, die über Untergang oder Aufstieg entscheiden. Zum Nachdenken bleibt keine Zeit. Zu groß die Herausforderung, zu wichtig die Reaktion, zu mächtig das Amt. Zögern wird bestraft. Beinahe wäre Olaf Scholz gleich zu Beginn seiner Kanzlerschaft deshalb gescheitert. Es vergingen 36 Stunden, bis er umsteuerte. So lange habe es gebraucht, bis sie alle im Kanzleramt die weltpolitische Dimension verstanden hätten, sagt einer, der es von innen kennt. Es klingt entwaffnend ehrlich.
Es geht um die Zeit zwischen dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine am frühen Morgen des 24. Februar bis zum darauffolgenden Abend. 36 Stunden, in denen Olaf Scholz erst das Richtige sagt, dann einen schweren Fehler macht und schließlich den Grundstein dafür legt, der Bundeskanzler werden zu können, den er den Menschen versprochen hat.
Einen Mann, der dafür sorgen wird, dass es für Deutschland am Ende der 20er-Jahre „gut ausgeht“. Das waren die eher ungewöhnlichen Worte in seiner Regierungserklärung am 15. Dezember. Die meisten dachten dabei sicher an Corona. Scholz dachte tatsächlich an mehr.
Die Kraft, mit der er seine Kehrtwende nach der Zeitenwende vom 24. Februar vollzog, hätte er normalerweise wohl seine „Bazooka“ genannt. Damit hatte er als Finanzminister die Milliardenhilfen in der Corona-Krise beschrieben. Doch der Vergleich verbietet sich heute. Diese Waffe wäre zu nah an furchtbarer Wirklichkeit.
Selbst die Jahrhundertkatastrophe der Corona-Pandemie erweist sich trotz aller Dramen noch nicht als die größte Tragödie. Sie wird übertroffen von Putins Krieg, diesem Krieg in Europa und der Gefahr eines Dritten Weltkriegs, weil der Kremlchef mit Atomwaffen gegen Nato-Staaten droht.
Um nichts Geringeres geht es in diesen ersten 100 Tagen der Amtszeit von Olaf Scholz, 63 Jahre alt. Seine SPD lag im Wahlkampf in den Umfragen lange noch hinter den Grünen und wurde schließlich mit nur rund einem Viertel der Stimmen bei der Bundestagswahl stärkste Partei. Kein Ruhmesblatt für die traditionsreiche Partei, aber dennoch ein Riesenerfolg. Die SPD stellt jetzt zum vierten Mal den Bundeskanzler.
Die ersten 100 Tage gelten eigentlich als Schonfrist. Eine neue Regierung, eine neue Führung soll sich einarbeiten können, ohne dass sofort die gleichen Ansprüche an sie wie an langjährig Amtierende gestellt werden. Aber das war einmal. Utopisch, zu glauben, Scholz hätte bis zum 17. März auf Nachsicht welcher Art auch immer setzen können.
Geholfen hat ihm, dass er schon vier Jahre Vizekanzler von Angela Merkel war und diese dem SPD-Mann wie beim Treffen mit US-Präsident Joe Biden während des G20-Gipfels in Rom auf internationalem Terrain die Tür öffnete, noch bevor Scholz am 8. Dezember vereidigt wurde. Die Vorgängerin und der Nachfolger haben seither mehr als einmal miteinander telefoniert. Aber sie sprechen nicht darüber.
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Merkel gibt Scholz öffentlich keine Ratschläge. So will es Scholz auch einmal halten, wenn er Altkanzler ist. Aber man darf davon ausgehen, dass die Christdemokratin dem Sozialdemokraten Fragen beantwortet und ihn bestärkt hat, mutig voranzugehen. Von ihrer Erfahrung kann Scholz mehr profitieren als von dem Gebaren des eigenen Altkanzlers der SPD und Putin-Freundes Gerhard Schröder. Dass dieser sich nun von seiner Ehefrau als möglicher Vermittler bei Putin inszenieren lässt, hilft der Bundesregierung nicht weiter. Die reinste Peinlichkeit für die SPD.
Scholz rang mit Putin um Frieden
Am 15. Februar rang Scholz mit Putin noch von Angesicht zu Angesicht um Frieden. Auf die Frage in der Pressekonferenz, ob er ausschließe, Krieg gegen die Ukraine zu führen, sagte der russische Machthaber aber nur, er wolle keinen Krieg. Scholz hatte diese Unterscheidung sehr genau registriert. Dass Putin ihm zum Abschied nicht nur Champagner, sondern auch einen direkten Draht anbot, ihn jederzeit anrufen zu können, hätte er gern als vertrauensbildende Maßnahme angenommen. Aber er war skeptisch. Neun Tage später marschierte Putin in der Ukraine ein.

Russlands Präsident Wladimir Putin (l) und Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD)bei ihrem Treffen im Kreml am 15. Februar. Scholz rang mit Putin um den Frieden, neun Tage später griff Russland die Ukraine an. © picture alliance/dpa/Russian President Press Office/Sputnik
Scholz reagierte mit einem kurzen harten Statement. Russland stelle mit seinem völkerrechtswidrigen Angriffskrieg gegen die Ukraine die europäische Friedensordnung infrage und werde einen „bitteren Preis“ dafür zahlen. Den meisten Bürgerinnen und Bürgern in Deutschland sprach er damit aus dem Herzen. Etliche erklärten sich bereit, lieber für die Ukraine zu frieren, als dass Deutschland weiter russisches Gas kaufe.
Doch beim EU-Sondergipfel am Abend blieb er die Taten schuldig, die er mit drastischen Worten angekündigt hatte. Er sagte Nein zur Verschärfung der geplanten Sanktionen gegen Russland. Etliche europäische Staats‑ und Regierungschefs wollten den Ausschluss Russlands aus dem internationalen Zahlungssystem Swift in das Paket aufnehmen. Aber Italien und Ungarn etwa und eben Deutschland lehnten das ab. Scholz sagte, es solle bei den bereits vereinbarten Maßnahmen bleiben. Man müsse sich „alles andere aufbehalten für eine Situation, wo das notwendig ist, auch noch andere Dinge zu tun“.
Wie bitte? Das sollte der „bittere Preis“ für Putin sein? Und wofür wollte sich Scholz noch etwas „aufbehalten“? Für einen Angriff auf einen Nato-Partner? Dann wäre doch ohnehin alles zerstört. Es prasselte Kritik im In- und Ausland. Scholz, der Umfaller, der zahnlose Tiger. Dann habe Putin ja alles erreicht. Es war die weltpolitische Dimension, die sie im Kanzleramt erst verstehen mussten. Zurück in Berlin am Abend des 25. Februar, fing Scholz schließlich an, umzusteuern. In sehr kleinem Kreis.
Scholz kippt Grundregeln über Bord
Nachdem Italien und Ungarn von ihrer Entscheidung abrückten und Polen es als „Witz“ bezeichnete, dass Deutschland der Ukraine nur 5000 Helme und keine Waffen geben wollte, kippte Scholz bisherige Grundregeln des Landes und seiner Partei über Bord. Er entschied sich für die Lieferung tödlicher Waffen ins Kriegsgebiet – etwas, das Deutschland bisher immer ausgeschlossen hat. Und er entschloss sich zu einem sagenhaften Sondervermögen für die Bundeswehr von 100 Milliarden Euro.
Er beriet darüber mit seinen Vizekanzlern Robert Habeck und Christian Lindner. Er beriet sich nicht mit dem eigenen SPD-Bundestagsfraktionsvorsitzenden Rolf Mützenich, gegen dessen sämtliche politische Grundauffassungen beide Entscheidungen verstoßen. Mützenich wurde erst kurz vor Beginn der Sondersitzung des Bundestags am 27. Februar informiert. Man merkte das seiner Rede an. Er schwankte zwischen Loyalität, Erschütterung und Skepsis.
Scholz habe befürchtet, dass Mützenich sich verpflichtet fühlt, mit der Fraktion darüber zu beraten, heißt es in Parteikreisen. Dann wäre vermutlich umgehend ein heftiges öffentliches Ringen um den Bruch mit dem bisherigen Kurs losgebrochen. Ob Scholz ein schlechtes Gewissen gegenüber Mützenich hat? Nein, heißt es. Begründung: Er habe ihn vielmehr geschützt und die ganze Verantwortung allein übernommen.
Die Sache mit der Verantwortung ist Scholz wichtig. Als er an jenem Sonntag des 27. Februar ans Rednerpult im Bundestag geht, wirkt er aufgebracht, aber völlig kontrolliert. Seine Stimme ist nicht so monoton wie sonst. Er formuliert scharf und unmissverständlich. Das Land erlebt jetzt einen entschlossenen Bundeskanzler, der in den Wochen zuvor darüber nur gesprochen hatte, in Wahrheit aber auf Tauchstation gegangen war.
Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) ließ er den Ton anschlagen in der Auseinandersetzung mit Putin. Der FDP hatte er freie Fahrt in der Corona-Politik gelassen und sich aus der Debatte über die von ihm selbst angestoßene Impfpflicht herausgehalten. In Pressekonferenzen antwortete er, was er gerade sagen wollte, aber nicht auf die Fragen. So ließ er bis zum Schluss offen, ob die umstrittene Ostsee-Gaspipeline Nord Stream 2 von Russland nach Deutschland mit Sanktionen belegt wird, wenn Moskau Kiew angreift.
Vielleicht brauchte Scholz bei allem Selbstbewusstsein und manchmal auch Selbstgerechtigkeit doch einige Zeit, um anzukommen in dem Amt. Vielleicht tastet er sich noch vorsichtig vor. Er hatte von Anfang an Sorge, dass es zum Krieg zwischen Russland und der Ukraine kommt – Putins angebotener direkter Draht hat übrigens nichts gebracht. Und jetzt befürchtet der Bundeskanzler, dass viele Deutsche sich sehr eilfertig bereit erklären, für die Ukraine zu frieren, um russisches Gas abbestellen zu können, es aber bereuen könnten. Auch deshalb tritt er da auf die Bremse.
Er hat nämlich einen Eid geschworen. Das ist ihm wichtig, zu betonen. Er werde seine Kraft dem Wohle des deutschen Volkes widmen und Schaden von ihm wenden. In seiner ersten Regierungserklärung hatte er gesagt: „Wenn wir den Aufbruch jetzt entschlossen beginnen, dann werden wir nicht nur die Corona-Pandemie hinter uns lassen, dann werden wir Deutschen auch gemeinsam erfolgreich sein. Und dann werden die Bürgerinnen und Bürger am Ende dieses Jahrzehnts sagen: ‚Ja, es geht gut aus, es geht gut aus für mich, es geht gut aus für meine Familie und für unser Land.‘“
Trotz Corona-Krise, Klimawandel und Kriegsgefahr. Es wird gut ausgehen. Das ist Scholz‘ Botschaft. Dafür hat er die Verantwortung übernommen. Er kann ein großer Kanzler werden oder scheitern – für Normalität ist kein Platz.
Der Artikel "Kanzler Olaf Scholz – in der Krise liegt die Kraft" stammt von unserem Partner, dem RedaktionsNetzwerk Deutschland.