Kampf der Geschlechter

"Lulu" im Tanztheater

Schlechte Zeiten für die Liebe am Theater Münster: Nachdem es in Anton Tschechows „Platonow“ schon nicht zwischen Männern und Frauen geklappt hat, setzt Tanztheater-Chef Hans Henning Paar jetzt noch einen drauf: Seine „Lulu“-Choreografie ist ein düsterer, mitreißender, am Ende zutiefst schockierender Kampf der Geschlechter.

12.10.2014, 13:07 Uhr / Lesedauer: 2 min
Im Studio des Fotografen Herrn Schwarz (Keelan Whitmore) entdeckt Lulu (Priscilla Fiuza) die Macht der Sexualität.

Im Studio des Fotografen Herrn Schwarz (Keelan Whitmore) entdeckt Lulu (Priscilla Fiuza) die Macht der Sexualität.

Am Anfang ist Lulu nur Opfer, ein wehrloses Mädchen, das von den Männern begrapscht und erniedrigt wird. Im zweiten Bild erwachen in ihr Rebellion und Sexualität. Priscilla Fiuza tanzt diese eindrucksvollste Lulu, die im Aktfotostudio des Herrn Schwarz riesige „Selfies“ auf die Leinwand projiziert. Der lange Pas de deux mit dem Fotografen von Keelan Whitmore  ist ein Ausbruch von Sinnlichkeit  – einer der wenigen, denn die Bewegungen der Choreografie drehen sich sonst meistens um Gewalt und Unterwerfung. Die Tänzer, die sich dabei ständig gegenseitig tragen, auffangen und die Unterwäsche herunterreißen, vollbringen eine Leistung sondergleichen. Die dritte Lulu (Elizabeth Towles) ist eine Dame und selbst eine Manipulatorin. Wie sie die lesbische Gräfin Geschwitz benutzt, um aus dem Gefängnis zu kommen, und dabei heuchlerisch „Love me tender“ trällert, zeigt: Sie hat die Regeln der Männer verstanden. Aber das nutzt ihr gar nichts.

Das Sinfonieorchester unter Thorsten Schmid-Kapfenburg sitzt hinter den Tänzern auf der Bühne und beschwört mit Musik von Kurt Weill und Paul Dessau finster-schön den Totentanz der Weimarer Republik. Zum schrecklichen Finale gibt es dann aber doch noch einen Hinweis auf Alban Bergs großartige „Lulu“-Oper. Allerdings ohne Alban Berg. Stattdessen kommt Komponist Friedrich Cerha zu Wort, der Bergs unvollendeten letzten Akt komplettierte. Nun darf er auch hier mit seinen „Impulsen für Orchester“ infernalisch den Auftritt des Mörders Jack the Ripper illustrieren. Diese Szene, die in der Oper oft weggelassen oder schamhaft drangeklatscht wird, ist bei Hans Hennig Paar die Essenz der Geschichte. Tommaso Balbo spielt den Mörder wie einen Hund, einen tödlich-eleganten Dobermann, der sein Opfer beschnüffelt. Er zerrt Lulu hinter einen Paravent, erdolcht sie und erscheint als Schattenriss wie Murnaus Vampirfürst Nosferatu. Ein entsetzliches Bild.

Noch verstörender aber ist, wie sang- und klanglos Lulu verschwindet. Konnte man die traurige Handlung bis zu diesem Punkt immerhin noch als Geschichte ihrer Emanzipation deuten, wird die Heldin nun einfach unsichtbar hinter einer Pose triumphierender männlicher Brutalität und Bosheit. An dieser Stelle verwandelt sich Frank Wedekinds Tragödie über die bürgerliche Moral in ein Menetekel heutiger politischer und religiöser Krisen, in denen Frauen oft gnadenlos unterdrückt und ausgelöscht werden. Erschütterter Applaus.