Kabinett der Betonköpfe
Mike Nelson in der Kunsthalle
In die münstersche Kunsthalle fährt man mit dem Fahrstuhl wie in ein Luxus-Loft: Im fünften Stock steigt man aus und ist sofort mitten in der Kunst. Diesmal traut man sich jedoch kaum auszusteigen, so bombastisch füllt die Installation von Mike Nelson den kompletten Saal.

Im ersten Moment denkt der Betrachter, Steine steckten im Metallgitter. Doch dann erkennt man die Beton-Abgüsse von Halloween-Masken.
All das sieht schon eindrucksvoll aus. Doch erst auf den dritten Blick erkennt man die schauerliche Pointe dieser Arbeit. Die kopfgroßen Steine sind tatsächlich Köpfe. Es sind Beton-Abgüsse von Halloween-Masken: Dämonen, Clowns oder Politiker wie Lenin und Gaddafi. Die grässlichen Fratzen hängen an Fleischerhaken im Gestänge. Es ist ein Bild von äußerster Brutalität, das an Münsters Wiedertäuferkäfige, vor allem aber an den Terror der IS-Milizen im Irak denken lässt. Wollte Nelson an den Horror der geköpften Geiseln erinnern? Wollte er den Schrecken der Enthauptungsvideos, der in den Medien aus gutem Grund nur beschrieben, aber nie gezeigt wird, künstlerisch erfahrbar machen? „Ich kann mit so einer Interpretation leben“, sagt der Brite. Er habe in Ländern des Nahen Ostens gearbeitet und fühle sich den Menschen dort sehr verbunden. Aber eigentlich geht es in der Arbeit mit dem seltsamen Namen „Studio apparatus“ um etwas anderes. Wie bei allen Ausstellungen in der Kunsthalle gibt es auch hier eine große Meta-Ebene, die man nur erfährt, wenn man den Beipackzettel liest.
Mike Nelson, der 2011 den britischen Pavillon auf der Biennale in Venedig gestaltete und zurzeit auch in Paris ausstellt, erhielt 1998 einen sonderbaren Auftrag. Er sollte für eine Kunstaktion im Londoner Camden Arts Center ein Schau-Atelier aufbauen und dort vor den Augen der Besucher arbeiten. Eigentlich eine spannende Idee – aber Nelson hatte im realen Leben gar kein Atelier. Deshalb kam es ihm absurd vor, nun so zu tun als ob. Also entwarf der Künstler den ersten „Studio apparatus“: eine Atelier-Attrappe, in der das Publikum labyrinthisch herumwandern und Requisiten begutachten konnte, aber weder einen Künstler noch irgendwelche Kunstwerke fand. In dieser Tradition steht nun auch der „Studio apparatus“ in Münster. Zwar kann man in dem Metallgestänge nicht herumwandern, aber man kann hineinblicken. Und dort ist tatsächlich eine Art Atelier zu sehen: Der orangerote Betonmischer für die Köpfe steht an der Seite zum Hafen, ein Regal mit den Original-Masken auf der anderen Seite. Die grausigen Fratzen hat Nelson aus dem einfachen Grund ausgewählt, dass am heutigen Tag der Ausstellungseröffnung nun einmal Halloween ist. „Das ist mein dunkler Humor“, sagt er – sieht sich aber auch in einer Linie mit Künstlern wie Goya, die die Darstellung des Schrecklichen lustvoll kultiviert haben.
Dass ein solcher Vergleich nicht zu hoch gegriffen ist, zeigt die „Schwesterausstellung“ der münsterschen Schau: Mike Nelson zeigt nämlich ein ähnliches Werk zurzeit auch im Palais de Tokyo in Paris, einem der bedeutendsten Museen für zeitgenössische Kunst weltweit. Bei der Bahnfahrt von Paris nach Münster passierte ihm aber ein fataler Fehler: „Ich hatte den Zug so gerade erreicht, saß erleichtert auf meinem Platz, betrachtete mein Ticket – und wunderte mich, dass die Fahrt nur drei Stunden dauern sollte.“ Während draußen vor dem Fenster Paris entschwand, dämmerte dem Künstler, dass er nach Münster im Elsass unterwegs war. Kein Wunder, dass er in Westfalen dann seinen dunklen Humor auslebte und ein paar Köpfe rollen ließ.